Der blinde Redner spricht
Hat von Anfang an nur pädagogische Regelangebote besucht: Michael Wahl
Fortbildungstag Inklusion im BLLV nach nur drei Tagen ausgebucht Inklusion

Asynchrone Lernformen fordern ein Neudenken von Unterricht

Inklusive Bildung ist für das Gelingen von Inklusion in der Gesellschaft von zentralem Wert, denn inklusive Werte können bereits in der Schule vermittelt werden. Um diejenigen, die dies in ihren Klassen ermöglichen und umsetzen könnten, nicht allein zu lassen, fand in der Landesgeschäftsstelle des BLLV am 23.11.2017 ein Fachtag für Lehrer/innen aller Schularten statt, der Praktiker/innen mit Expert/innen zusammenbrachte.

Acht Jahre nach Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention werden bundesweit nur ein Drittel aller Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf allgemeinbildenden Schulen inklusiv beschult. In Bayern besucht sogar bloß ein Viertel der Jugendlichen mit Förderbedarf eine Regelschule - und die mangelhaften Voraussetzungen, die dafür geschaffen wurden, sorgen oft für Probleme im Schulalltag. Für die involvierten Lehrkräfte stellt der Inklusionsanspruch auf diese Weise eine hohe Belastung dar. In ihrer Begrüßungsrede konstatierte auch Simone Fleischmann, dass die meisten Regelschulen weder personell noch räumlich auf Kinder mit Förderbedarf vorbereitet sind.

Tatsächlich wird nach dem Kindergarten, wo der Inklusionsanteil am höchsten ist (in Bayern: 42%, ebenfalls weniger als der Bundesdurchschnitt), überwiegend in segregativen Strukturen unterrichtet. Weil es überall an Konzepten, Geld und Zeit mangelt, findet Inklusion ab der Sekundarstufe überwiegend in den Mittelschulen statt. Dies kritisierte auch Simone Fleischmann: Der Fokus der Inklusion dürfe nicht auf Grund- und Mittelschulen ausgerichtet bleiben, sagte sie. Er müsse auf Realschulen und Gymnasien erweitert werden, damit die Chance zur Teilhabe von Schülern sich nicht mit steigendem Alter verringert.

Weil die Schülerzahlen weiter steigen werden, vergrößert sich auch der Bedarf an Fachpersonal. Und weil klar ist, dass die Bedingungen für gelingende Inklusion noch lange nicht ideal sind, haben Lehrerinnen und Lehrer mit den Anforderungen einer zunehmend homogeneren Schülerschaft zu kämpfen - und jede Menge Informationsbedarf.

Hintergrundwissen und Praxistipps

Die 60 Teilnehmer des Fachtags verteilten sich je nach Interessenslage auf zweimal drei verschiedene Workshops. Hier erfuhren sie, wie ein guter Förderplan aussieht (Susanne Bjarsch, LMU), wie die rechtliche Seite organisiert ist in puncto Schulbegleiter, Notenschutz oder Nachteilsausgleich (Frau Schwager, Schulamt München) - und wie man am besten den Unterricht mit verhaltensauffälligen Kindern gestaltet (Jürgen Dobias und Ulrike Holmer, Prof.-Otto-Speck-Schule München).

Das Impulsreferat "Von der Politik zur Praxis der inklusiven Bildung" hielt Michael Wahl, Referent für Gleichstellung, Selbstbestimmung und Barrierefreiheit des Ministeriums für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie Rheinland Pfalz. Er sieht den Respekt vor der Vielfalt und systemische Teilhabe als wichtige Bestandteile der gesellschaftlichen Friedenssicherung an. Die Ausgangslage in Bayern beschrieb der von Geburt an blinde Redner als Schlingerkurs: mit zunehmender Förderquote stiege zwar auch Inklusionsrate langsam an, gleichzeitig würden aber auch mehr Schüler auf Sonderschulen aufgenommen.

Der Ländervergleich "Inklusive Bildung in Deutschland" der Friedrich-Ebert-Stiftung belegt jedoch, dass hier 60% der Schüler eine Fördereinrichtung ohne Abschluss verlassen. Somit sei diese als edukative Sackgasse erkennbar.

Gemeinsam mit seinen Zuhörern stellte sich Michael Wahl also die Frage nach geeigneten Rahmenbedingungen, damit wir in Zukunft erfolgreich Kinder mit unterschiedlichen Begabungen beschulen können.
Der Referent plädiert für offene, dezentrale Beschulung. Denn er glaubt, dass der Wandel hin zum inklusiven Bildungssystem nicht ohne einen fundamentalen Systemwandel passieren wird: "nicht nur die schulische Umgebung muss angepasst werden - sondern die gesamte Organisation von Unterricht", indem dieser sich etwa binnendifferenziert nach den individuellen Lernprozessen richtet.
Zu inklusiven Strukturen gehörten: Teamteaching und Kooperationen mit Sonderpädagogen, inklusive pädagogische Konzepte und Lehrmethoden, die wiederum inklusive Lehrmaterialien erfordern, sowie barrierefreie Kommunikationsformen und Gebäude.

Individuelle Lernprozesse vs. gemeinschaftliches Lernen

Wahl fragte sich in diesem Zusammenhang auch, warum vereinzelte positive Beispiele aus der Schullandschaft (oft handelt es sich um private Bildungseinrichtungen) nicht mehr Resonanz fänden und von den Schulministerien zum Vorbild genommen würden - und machte unter anderem das Kooperationsverbot dafür verantwortlich.

Generell wünscht sich der sportbegeisterte Referent (ehemaliger Spieler der Bundesmannschaft im Blindenfußball, heute aktiv im Tennis) "mehr Möglichkeiten zur Begegnung", je früher desto besser - die in anderen Ländern vielfach schon gegeben seien. "Dies mache Menschen mit Behinderung auch kritikfähig". Sie brauchten Normalität und Respekt, keine reine Fürsorge.

Michael Wahl hatte selbst das Glück, von Anfang an eine Regelschule zu besuchen, auf der er sich "irgendwie immer behauptete". Nach seinem Abitur und einem geisteswissenschaftlichen Studium ließ er sich zunächst zum Hörfunkjournalisten ausbilden. Später volontierte er bei der Bundeszentrale für politische Bildung und erwarb in einem zweiten Studium den Abschluss als Gesundheitsökonom. Dies befähigt ihn heute, das Gleichstellungsgesetz für Rheinland Pfalz fortzuschreiben und dort als Bausachverständiger für Inklusion aufzutreten.
Neben seiner Vortragstätigkeit führt er eine kleine Agentur für barrierefreie Kommunikation - denn Inklusion ist nicht nur baulich zu schaffen. Sie wirbt für Inklusion in allen Bereichen; nach dem Motto: Heterogenität ist produktiv, und "man kann nicht immer nur fordern; es müssen die Vorteile für alle ersichtlich sein!"



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