042020_Buchtipps_Forum_Lesen.png
Forum Lesen: Buchtipps im April Service
Beziehung Diversität Lesen Psyche

Aus der Perspektive der Mobbing-Opfer

Bei Nils explodiert die Wut und Vincent flüchtet alleine in den Wald: Das Forum Lesen empfiehlt diesen Monat zwei Bücher zum Thema Mobbing. Mitreißende und aufwühlende Erzählungen, die dazu aufrufen, nicht wegzuschauen.

Nils geht

Von Gabi Kreslehner

 

 

 

  • Tyrolia Verlag
  • Seiten: 139
  • ISBN: 978-3-7022-3843-8
  • Preis: 16,95 Euro
  • Altersempfehlung: ab 13 Jahren

Nachdem Nils von seinen Peinigern Jo, Rasmus und anderen fürchterlich zugerichtet worden ist, explodiert die Wut, die sich in ihm durch die Quälerei, der er seit Jahren ausgesetzt ist, angestaut hat. Nach seiner Messerattacke auf Jo sucht er das Weite.

Eines der besten Bücher zum Thema Mobbing seit langem – mitreißend erzählt, beklemmend, aufwühlend; ein eindringlicher Appell an die Jugendlichen, zu verstehen, was da passiert und nicht mitzumachen; und ein eindringlicher Appell an die Erwachsenen, nicht wegzuschauen, sondern einzugreifen.

Inhalt

Jo, Rasmus, Fadi und Mila, genannt auch „Die fürchterlichen Vier“ dominieren alle – wem sie in der Klasse ihre Gunst schenken, der ist glücklich, wen sie nicht leiden können, der hat ein Problem. Besonders haben sie Nils im Visier, den sie wahlweise „Detlef, alter Spinner“, „Detlef, blöde Sau“ oder „Detlef, alte Sau“ nennen, permanent hänseln und bloßstellen und beim Völkerball schon mal brutal abschießen. Nils ist klug, der Klassenbeste in Mathe, körperlich aber eher klein geraten und mitunter eigenartig in seinem Verhalten. Und er ist den Attacken der „fürchterlichen Vier“ offenkundig wehrlos ausgeliefert. Allein Sara, die ihn schon von Kindesbeinen an kennt, kümmert sich heimlich immer wieder um ihn, aber sie wagt es nicht, ihm offen beizustehen. Viel zu groß ist ihre Angst vor der Clique.

Die Sache scheint sich für Nils zum Besseren zu wenden, als er auf Bitten des Klassenlehrers Mila, die kurz vor dem Durchfallen steht, erfolgreich Mathe erklärt. Die beiden kommen sich näher, sehr zum Ärger von Jo, der meint, ein Anrecht auf Mila zu haben. Als sie ihn abweist, schart Jo seine Leute hinter sich, um Nils zu „bestrafen“. Bei einem brutalen Überfall richten sie ihn übel zu. Einige Tage später eskaliert die Sache noch einmal, als die ganze angestaute Wut in Nils explodiert und er mit einem Messer auf Jo losgeht und ihn im Gesicht verletzt. Anschließend sucht er durch das geöffnete Fenster das Weite.

Bewertung

Man spürt, dass die Autorin selbst Lehrerin ist und das soziale Gefüge in Schulklassen gut kennt. Es ist die sezierende Darstellung der Mechanismen und der Hintergründe, wie sie charakteristisch für Mobbing-Situationen sind.

Die Handlung setzt zu dem Zeitpunkt ein, als Nils nach seiner Flucht spurlos verschwunden ist und polizeilich gesucht wird. Drei Tage lang werden Sara und Jo vernommen, die Vernehmung minutiös protokolliert. Ausschnitte aus dem Vernehmungsprotokoll stehen zunächst am Beginn des Romans. So begreift der Leser nach und nach, dass hier einem Jungen fürchterlich mitgespielt worden ist.

An die Aussagen der Vernommenen anknüpfend erzählt Kreslehner aus der Sicht eines auktorialen Erzählers die Geschichte, wie es dazu gekommen ist und wie die MitschülerInnen und die Lehrkräfte durch ihr Verhalten mitschuldig geworden sind. Diese Passagen nehmen den deutlich größeren Teil des Romans ein und werden immer wieder unterbrochen durch weitere Ausschnitte aus den Vernehmungsprotokollen.

Nach und nach enthüllt sich dem Leser so, was sich zugetragen hat, welche gruppendynamischen Prozesse abgelaufen sind und wie die Jugendlichen immer brutaler in ihrem Handeln geworden sind. Der sorgsamen Figurenzeichnung ist zu verdanken, dass der Leser begreift, wie die Figuren zu dem geworden sind, was sie sind. Jede Figur im Beziehungsgefüge hat Verletzungen in ihrem eigenen Hintergrund, die eine Erklärung für ihr Verhalten ermöglichen.

Bedrückend ist nicht nur Nils‘ Erleben der ganzen Situation und sein Leiden. Bedrückend ist auch die Einsamkeit jedes Einzelnen in der Gruppe, in der es darauf ankommt, nicht selbst zum Opfer zu werden, die Hilflosigkeit der eigentlich Gutwilligen, die Bösartigkeit Einzelner, die auch ganz andere, weiche und verletzliche Seiten haben und deren Verhalten ein Stück weit der eigenen Sozialisation geschuldet ist.

Eines der besten Bücher zum Thema Mobbing seit langem – mitreißend erzählt, beklemmend aufwühlend, ein eindringlicher Appell an die Jugendlichen, nicht mitzumachen und zu verstehen, was da passiert, ein eindringlicher Appell an die Erwachsenen, nicht wegzuschauen, sondern einzugreifen.

Ich bin Vincent und ich habe keine Angst

Von Enne Koens

 

 

 

  • Übersetzung: Andrea Kluitmann
  • Illustrationen: Maartje Kuiper
  • Gerstenberg Verlag
  • Seiten: 188
  • Preis: 15,00 Euro
  • ISBN: 978-3-8369-5679-6
  • Altersempfehlung: ab 9 Jahren

Vincent flüchtet auf der Klassenfahrt mitten in der Nacht vor seinen Peinigern in der Klasse in den Wald. Er hat schon gewusst, was auf ihn zukommt und sich mit seinem Lieblingsbuch, einem Survival-Handbuch, intensiv auf diese Situation vorbereitet.

Ein sehr berührendes, aufwühlendes und zugleich spannend geschriebenes Buch zum Thema Mobbing, das den Leser mit der leidvollen Perspektive des Opfers konfrontiert – wie gemacht für die Klassenlektüre ab dem Ende der vierten Klasse. Es wurde kürzlich mit dem „Leipziger Lesekompass“ ausgezeichnet.

Inhalt

Wie ein Damoklesschwert  hängt die kommende Klassenfahrt über dem elfjährigen Vincent. In sieben Tagen wird sie ihn und seine Klasse in die Ardennen führen, in eine Gruppenunterkunft, die mitten im Wald gelegen ist. Wenn Vincent daran denkt, bekommt er Panik, denn schon zu Hause machen ihm seine Mitschüler, besonders Dilan und Stephan, das Leben zur Hölle. Sie lauern ihm auf dem Schulweg und in den Pausen auf, beschimpfen, schlagen und kratzen ihn, behaupten, er stinke, machen seine Sachen kaputt und vieles mehr. Er versteht nicht, warum sie so zu ihm sind, und wünscht sich nichts sehnlicher als einen Freund zu haben.

Mit allen Mitteln versucht er, seinen Peinigern zu entkommen, sei es, dass er z.B. vorgibt, krank zu sein, um nicht in die Schule zu müssen, oder sich die große Zehe verstaucht zu haben, um das Zusammentreffen mit den anderen auf dem Pausenhof zu vermeiden.

Den Eltern kann er sich nicht anvertrauen, denn sie reagieren, wie er weiß, mit Sorge und Trauer auf Berichte von solchen Dingen und schicken ihn zur Psychologin. Mit einer solchen hat er aber bereits schlechte Erfahrungen gemacht.

Da ihm Dilan unverhohlen gedroht hat, ihn auf der Klassenfahrt fertigzumachen, nutzt Vincent die Tage zuvor, sich minutiös darauf vorzubereiten. Und zwar mit seinem Lieblingsbuch, einem Survival-Handbuch, das Ratschläge gibt, wie man in der Wildnis überleben kann. Als die Sache im Schullandheim dann, wie befürchtet, eskaliert, flüchtet Vincent mitten in der Nacht in den Wald und löst damit eine großangelegte Suchaktion aus. Er schlägt sich dort den ganzen nächsten Tag durch, indem er sein Wissen über Survival-Techniken anzuwenden versucht. Diese hätten ihm aber angesichts der November-Kälte nichts genützt. Zum Glück gibt es Jaqueline, die „Die Jacke“ genannt werden möchte. Sie ist seit kurzem neu in der Klasse und sie hat genau beobachtet und verstanden, was mit Vincent los ist.

Bewertung

Der Ich-Erzähler Vincent ist ein ungewöhnlicher, fantasiebegabter Junge, der sehr behütet aufwächst und außergewöhnliche Interessen hat. Er spürt, dass er anders ist als seine Altersgenossen, weniger laut, weniger rüpelhaft. Er fragt sich: Ist er deswegen nicht normal? Und er weiß, dass er sich wehren müsste. Um das zu schaffen, macht er jeden Tag Krafttraining. Doch er merkt immer wieder neu: Gegen die Überzahl der anderen hat er bei allem Training keine Chance.

Vincent nimmt den Leser mit in sein Erleben der tagtäglichen Drangsalierereien und Übergriffe seiner Mitschüler, in seine Angst und seine vergeblichen Versuche, ihnen zu entkommen, aber auch mit in seine Flucht in eine Traumwelt, die ihm ein „Überleben“ ermöglicht und in der vier imaginierte Tiere die fehlenden Freunde ersetzen. Nicht die Erwachsenen sind es, die ihm in seiner verzweifelten Situation helfen. Sie sind – wie so oft in den einschlägigen Büchern und wohl auch im wirklichen Leben – überfordert.  Erst als „Die Jacke“ auftaucht, wendet sich Vincents Leben zum Besseren. Sie ist es, die ihm die Augen dafür öffnet, dass es ein „Normal“ nicht gibt und dass der Fehler nicht bei ihm liegt.

Ein sehr berührendes, aufwühlendes und zugleich spannend geschriebenes Buch zum Thema Mobbing, das den Leser mit der leidvollen Perspektive des Opfers konfrontiert – wie gemacht für die Klassenlektüre ab dem Ende der vierten Klasse. Es wurde kürzlich mit dem „Leipziger Lesekompass“ ausgezeichnet. 



Mehr zum Thema