Akzente - 6/2017
Akzente

Die Würde des Berufs

In einer Welt der Rankings und der Staatsverdrossenheit sollten wir den Wert von Solidarität und eines konstruktiv-kritischen Miteinanders entdecken.

Am 12. September war ich als Patentante bei der Einschulung des sechsjährigen Konstantin. Neugierig, aber auch aufgeregt und unsicher betrat er das große, moderne Schulgebäude und tat seine ersten Schritte in diese aufregende aber ungewisse Welt. Immer wieder suchte sein Blick unsere Blicke: er vergewisserte sich, dass wir da sind.

Als langjährige Leiterin einer Grund- und Mittelschule kenne ich die ersten Schultage der Schulanfänger aus Sicht von uns Lehrerinnen und Lehrern sehr gut. Ich kenne die Kinder, wie sie aufgeregt und stolz mit ihren Schultüten im Arm die Schule und die Klassenzimmer betreten - die einen selbstbewusst und selbstsicher, die anderen ängstlich und zurückhaltend.

Ich kenne die erwartungsvollen Eltern, Paten, Großeltern. Ich kenne die Freude, aber auch die Unsicherheit der Kolleginnen, die aus diesen kleinen Individuen nun eine Gemeinschaft bilden sollen. Werden sich alle Kinder gut integrieren können? Werden sie meine Autorität akzep tieren? Werden sie Freude am Lernen haben? Werden die Eltern sie unterstützen? Werden die Eltern mich unterstützen oder werden sie mich von Anfang an kritisch hinterfragen? Werde ich die Balance zwischen gemeinschaftlicher und individueller Förderung schaffen?

Der Wettbewerb beginnt in der ersten Klasse
An diesem Tag wird mir wieder bewusst, wie herausfordernd es ist, den Erwartungen der Eltern gerecht zu werden, für die ihr Kind das Ein und Alles ist. Manche von ihnen sehen in uns Erziehungspartner, schätzen unsere Kompetenz und unseren Einsatz. Andere begegnen uns mit Skepsis und Überheblichkeit Und mir wird mehr denn je bewusst, dass in einer Zeit, in der alles messbar sein muss, in der es darum geht, im Ranking möglichst immer ganz vorne zu stehen, der Wettbewerb zwischen den Kindern oft schon in der ersten Klasse beginnt.

Schule kann sich nicht einer Welt entziehen, in der alles miteinander verglichen und in Rankings bewertet wird. Und dennoch müssen wir immer die Gemeinschaft im Auge behalten, in der sich der einzelne einordnen und manchmal auch unterordnen muss. Als Lehrerinnen und Lehrer müssen wir die Balance finden zwischen individueller Förderung der Kinder und Jugendlichen und der Entwicklung einer solidarischen Klassen- und Schulgemeinschaft.

Angst, auf der Strecke zu bleiben
Die Angst, auf der Strecke zu bleiben, beherrscht auch den schulischen Alltag. Eine wachsende Unkultur des Misstrauens gegenüber dem Staat und seinen Einrichtungen stellt eine der größten Herausforderungen für unsere Profession dar. Die Schule von heute braucht ein solidarisches, wertschätzendes und konstruktiv-kritisches Miteinander der Kolleginnen und Kollegen.

Es geht um ein neues Verständnis von pädagogischer Profession, und es geht um die Würde unseres Berufes. Dafür brauchen wir ein Höchstmaß an Selbstreflexion, professionellem Selbstbewusstsein und fachlicher Kompetenz. Wir brauchen ausgeprägte Kommunikationsfähigkeit und große Überzeugungskraft. Das alles kann aber nur in Solidarität miteinander gedeihen. Deshalb müssen wir gemeinsam unsere Professionalität definieren und nach außen vertreten. Wir müssen uns gegenseitig stützen und konstruktiv begleiten. Dazu bedarf es auch unserer Arbeit als Berufsverband.

Konstantin wird im Jahr 2030 sein Abitur machen - wenn ihm 2021 der Übertritt gelingt. Ob es uns gelingt, bis dahin ein neues Professionsverständnis für alle Lehrerinnen und Lehrer zu entwickeln, das ist die Frage.



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