Einstimmiger LDV Beschluss (26.09.2015) Schule und Gesellschaft

Flüchtlingsintegration auch eine Frage der Bildung

Die menschliche Aufnahme, sichere Unterbringung und erfolgreiche Integration von Flüchtlingen stellt ganz Europa vor große Herausforderungen. Für den Bayerischen Lehrer-und Lehrerinnenverband (BLLV) steht außer Frage, dass wir diese Herausforderung gemeinsam bestmöglich bewältigen müssen und bewältigen können.

Ob es gelingt, die Flüchtlinge mittel- und langfristig in unsere Gesellschaft zu integrieren, hängt ganz wesentlich auch von der Schule ab. Es muss gelingen, dass so viele Ressourcen zur Verfügung stehen, dass eine nachhaltige Integration der vielfach traumatisierten Kinder und Jugendlichen möglich ist. Und es muss gelingen, dass deutsche Eltern in den Maßnahmen für die Integration der Flüchtlingskinder keine Benachteiligung ihrer eigenen Kinder sehen. Jetzt entscheidet sich, ob Deutschland und Bayern diese historisch nie dagewesene Herausforderung so meistern kann, dass die soziale, wirtschaftliche und politische Stabilität unseres Gemeinwesens auch in Zukunft erhalten bleibt. Es steht aus Sicht des BLLV mehr auf dem Spiel als nur die Integration der Bürgerkriegsflüchtlinge – es steht die Zukunft unserer Gesellschaft zur Disposition. Und dazu ist Bildung ein Schlüssel.

Die Herausforderungen werden uns dauerhaft über einen langen Zeitraum beschäftigen. Deshalb müssen auch haushaltspolitisch die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass wir sie bewältigen können. Die staatlichen Institutionen müssen in die Lage versetzt werden, diese Aufgabe zu schultern, auch wenn das ehrenamtliche Engagement einmal nachlassen sollte.

Die herausragende Institution ist in diesem Kontext die Schule. Einzig Schulen sind die Organisationen, die von allen Mitgliedern der Gesellschaft besucht werden. Schulen sind vermutlich die einzige Institution, in der Flüchtlingskinder und deutsche Kinder über Jahre im täglichen Kontakt stehen. Schulen sind deshalb einerseits der zentrale Ort für die Bildung und Integration von Flüchtlingen. Sie sind andererseits gesellschaftliches Vorbild und Lernfeld für ein friedliches und menschliches Miteinander.

 

Forderung

Der BLLV erkennt die bisherigen Bemühungen des Bayerischen Landtags und der Bayerischen Staatsregierung an, die Schulen und die hier arbeitenden Lehrerinnen und Lehrer dabei zu unterstützen, ihren Auftrag ausüben zu können. Der flexible Ausbau von Übergangsklassen und die geplante Bereitstellung zusätzlicher Mittel im Entwurf der Bayerischen Staatsregierung für den Nachtragshaushalt 2016 sind hierfür Beispiele.

Der BLLV ist jedoch der Auffassung, dass die im Entwurf der Staatsregierung für den Landeshaushalt 2015 (hier Epl. 05 für Bildung und Kultus) vorgesehenen Mittel, bei weitem nicht ausreichen. Lehrerinnen und Lehrer sind keine Jammerlappen. Aber Lehrerinnen und Lehrer können ihren pädagogischen Auftrag nur umsetzen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.

Ein gutes Miteinander und eine erfolgreiche Ausbildung und Integration von Flüchtlingen in den Schulen gelingt nur, wenn keine Neiddiskussion entsteht. Dies wiederum gelingt nur, wenn die schulischen Angebote ohne nennenswerte Beeinträchtigung wie bisher erfolgen können UND Flüchtlingskinder erfolgreich beschult werden. Eine Konkurrenz zwischen den berechtigten Bildungsinteressen der Eltern der bereits in den Klassen beschulten Kinder und den Bildungsinteressen der „neuen“ Flüchtlingskinder muss unbedingt vermieden werden. Beide Seiten sollen zusammenwachsen – und dürfen gerade nicht gegeneinander ausgespielt werden. Es soll ein Miteinander sein, kein Gegeneinander. Darauf hat der BLLV bereits wiederholt hingewiesen – auch gemeinsam mit den Lehrerverbänden der abl mit einer gemeinsamen Erklärung vom 8.7.15.

 

„Bildungschancen – das sind Lebenschancen; und zwar gleichermaßen für Einheimische und Zuwanderer.“

Bundesbildungsministerin Johanna Wanka

 

Der BLLV fordert die umgehende Bereitstellung von ausreichend Mittel zur Beschulung der Flüchtlingskinder für Oktober bis Dezember 2015. Für den Nachtragshaushalt 2016 fordert der BLLV mindestens zusätzliche 125 Millionen €. [*]

Wie dringend zusätzliche Mittel und Stellen erforderlich sind, zeigen die folgenden Beispiele. Diese Beispiele sind keineswegs Wunschträume. Sie sind zwingend notwendige Voraussetzungen dafür, dass Integration und Bildung von Flüchtlingskindern gelingt:

 

Schulpflicht nach drei Monaten

Die Schulpflicht für Flüchtlinge im entsprechenden Alter beginnt erst nach drei Monaten. Der BLLV wendet sich strikt gegen jede Überlegung, die Schulpflicht zu verschieben oder gar ganz auszusetzen. Dies gilt ausdrücklich auch für die Berufsschulpflicht.

Im Gegenteil: Schulen müssen in der Lage sein, betroffene Kinder und Jugendliche bereits vor Ablauf der Dreimonatsfrist aufzunehmen. Es ist eine Realität, dass diese Kinder bereits am Schultor stehen, bevor die drei Monate vorüber sind. Der Wunsch der Eltern nach Beschulung ihrer Kinder zeigt im Übrigen auch deren Wille zur Integration.

 

Islamischer Unterricht

Der BLLV wiederholt seine Forderung, das Angebot des Islamischen Unterrichts deutlich auszuweiten. Bislang kommen lediglich rund 12 % der muslimischen Kinder in dessen Genuss. Der Islamische Unterricht sollte selbstverständlich werden - und zwar nicht nur an den Grund- und Mittelschulen, sondern auch an den bayerischen Gymnasien und Realschulen. Der islamische Unterricht ist Beitrag zur Integration und zugleich Prävention gegen Radikalisierung. Ausreichend Lehrer/innen stehen zur Verfügung – der Haushalt muss die finanziellen Grundlagen sichern.

 

Schulleitungen: Anrechnungszeit- Unterrichtsausfall von SL vermeiden

Betroffene Schulleitungen müssen in deutlichem Umfang zusätzliche Anrechnungsstunden erhalten, um sich an ihrer Schule um die Flüchtlinge selbst, die betroffenen Lehrer/innen, externe Partner und Professionen, Behörden, Freiwillige etc. kümmern zu können. Es wäre absolut fatal, wenn Unterricht der Schulleitungen ausfallen muss, damit diese die genannten Aufgaben erfüllen können. Eltern würden dies leicht als Benachteiligung ihrer Kinder sehen und damit eine unvermeidbare Konkurrenzsituation erleben. Die Koordination aller Aufgaben rund um die Integration der Flüchtlingskinder in die Schule und in die Region liegt bei der Schule. Schulleiter/innen sind hier die zentralen Säulen der gelingenden Integration. Sie können dann nicht in den Unterricht! Verwaltungsangestellte müssen entsprechend unterstützt bzw. aufgestockt werden.

 

Deutschkurse/Fortbildung – Qualifizierung von Lehrer/innen

Es müssen ausreichend Mittel vorhanden sein, um die Aus-und Fortbildung von (zukünftigen) Lehrer/innen im Bereich Deutsch als Zweitsprache (DaZ) deutlich auszuweiten. Kurzfristig müssen Crashkurse für diese notwendige Kompetenz bei der Beschulung von Flüchtlingskindern angeboten werden. Diese müssen so dimensioniert sein, dass alle interessierten und mit den neuen Aufgaben betrauten Lehrer/innen Zugang bekommen können. Mittelfristig müssen die Universitäten der Lehrerbildung ihre Angebote ausbauen und über eine Anpassung der Lehrerbildung nachgedacht werden. Kolleginnen und Kollegen, die bereits in den Übergangsklassen gearbeitet haben, könnten ihre Expertise hier gut einbringen.

 

Übergangsklassen

Die Zahl der Übergangsklassen muss auch zukünftig während des Schuljahres ausgebaut werden können, sobald entsprechender Bedarf besteht. Für die Klassenneubildung müssen ausreichend Mittel und Stellen im Haushalt veranschlagt werden. Aus pädagogischen Gründen und Gründen der Effizienz fordert der BLLV einen Betreuungsschlüssel von 1:10.

 

Seismograph und Reserve

Es ist zu beachten, dass nur rund ein Drittel der betroffenen Flüchtlingskinder (vorübergehend) in Übergangsklassen beschult wird. Auch die anderen Klassen und Schulen müssen während des laufenden Schuljahres bei Bedarf zusätzliche Unterstützung abrufen können. Hierfür ist es notwendig, die Situation in kurzen Abständen zu überprüfen und bereits im Haushalt die notwendigen Reserven („task force“) bereitzustellen.

 

Personalgewinnung

Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit unter Lehrer/innen für Realschulen und Gymnasien stehen hoch motiviert und bestens ausgebildete Pädagogen grundsätzlich zur Verfügung. Da diese vermutlich nicht (mehr) alle verfügbar sind und der Gesamtbedarf deutlich höher liegt, fordert der BLLV weitere Maßnahmen zur Personalgewinnung einzuleiten und im Haushalt finanziell abzusichern.

 

Schulische Erstversorgung

Betroffene Schulen brauchen Fachkräfte, die Flüchtlingskinder an den Schulen in den ersten Tagen separat betreuen. Verantwortungsbewusste Schulleitungen setzen die besten Lehrkräfte ihres Kollegiums für diese Aufgabe ein, um ein möglichst gutes Ankommen und eine bestmögliche schulische Erstversorgung der Flüchtlinge zu ermöglichen. Erst danach können sie erfolgreich einer Klasse zugewiesen werden. Auch hier ist die Hilfe von multiprofessionellen Teams erforderlich. Ein erstes Screening in den Schulen ist ein Garant für einen viel harmonischeren Einstieg der Kinder in die Schule. Lehrerinnen und Lehrer sind in der spontanen Integration von jetzt auf gleich in ihre Regelklasse überfordert.

 

Pädagogische Hilfen und Unterrichtsmaterialien für Lehrer/innen

Lehrerinnen und Lehrer brauchen tatkräftige und hilfreiche praktische Unterstützung, um ihren umfassenden Aufgaben gerecht zu werden. Neben geeigneten Fortbildungsangeboten sind dies vor allen Dingen pädagogische Hilfen.
Beispielsweise sind Handreichungen für den Umgang mit traumatisierten Kindern erforderlich, die Lehrer/innen in die Lage versetzen, Fehler zu Lasten traumatisierter Kinder zu vermeiden und geeignete externe Professionen zu finden. Die Handreichungen sind durch das Kultusministerium, das ISB oder vergleichbare Stellen bereitzustellen und im Haushalt zu finanzieren.

 

Supervision für Lehrer/innen

Lehrer/innen begegnen den Flüchtlingskindern jeden Tag von Neuem. Sie werden konfrontiert mit ungeheurem menschlichen Leid, Traumatisierung und Gewalt.

Für diese Tätigkeit sind Lehrerinnen und Lehrer aber nicht oder nur bedingt qualifiziert. Sie brauchen deshalb sofortige professionelle Unterstützung – bevor sie die Grenzen ihrer Belastbarkeit erreichen. Die Ersatzmittel für Subventionen vergleichbarer Angebote sind im Haushalt bereitzustellen.

 

Psycholog/innen Elternabende: Störungen auffangen

Lehrerinnen und Lehrer erleben auf Elternabenden oder bei Tür- und Angelgesprächen Eltern, die mit ihren eigenen Gefühlen nicht zurechtkommen.

Es wird deutlich, dass sich teils widersprechende Wünschen der Eltern in den Elternabenden deutlich machen. Dieses „gesellschaftliche Brennglas“ nun zu bewältigen ist sehr schwer und von einer Lehrerin oder einem Lehrer alleine nicht professionell zu bewältigen.

Der BLLV fordert die Schulpsycholog/innen des KIBBS hier freizustellen bzw. regional passgenau für diese Aufgaben mit weiteren Stundenermäßigungen für diese psychologischen Aufgabenbereiche (u.a. Betreuung von Flüchtlingen; Coaching bei Elternabenden; Screenings und Anamnesen und Analysen in Einzelfällen; Supervision mit Lehrerinnen und Lehrern; Koordination der regionalen Aufgaben in Zusammenarbeit mit der Schulleitung) aus dem Unterricht zu nehmen.

 

Clearingstellen – zu Zuweisung von Flüchtlingen auf geeignete Bildungsorte

Vor Ort müssen an den Schulen Clearingstellen eingerichtet werden. Deren Aufgabe ist es, die Kompetenzen, Vorbildung und spezifischen Bedürfnisse jedes einzelnen Flüchtlingskindes zu erfassen und es auf dieser Grundlage an eine geeignete Schule zu vermitteln. Die Kompetenzen der Beratungsfachkräfte sind entsprechend deren Kompetenzen einzubeziehen. Sie sind in einem dementsprechenden Maß von ihrer Unterrichtsverpflichtung freizustellen. Die hierfür erforderlichen Mittel sind im Haushalt zur Verfügung zu stellen.

 

Multiprofessionelle Teams

Schulen müssen in der Lage sein, auf multiprofessionelle Teams zu Gunsten der Flüchtlingskinder zurückzugreifen. Die Schulen sind nicht in der Lage alle Aufgaben selbst zu übernehmen. Erforderlich sind beispielsweise Psycholog/innen für den Umgang mit den vielen traumatisierten Kindern. Unsere Lehrer/innen sind psychologisch nicht geschult, diesen Kindern richtig helfen zu können. Dolmetscher/innen, Sozialpädagog/innen und anderes unterstützendes Personal sind ebenfalls erforderlich. Die erforderlichen Finanzen sind im Haushalt zur Verfügung zu stellen.

 

Turnhallen

Eine gewisse Anzahl von Turnhallen bayerischer Schulen wurde als Notunterkünfte für Flüchtlinge während der Sommerferien genutzt. Auch hier ist sicherzustellen, dass Konkurrenzsituationen vermieden werden. Eltern dürfen nicht den Eindruck gewinnen, dass ihre eigenen Kinder aufgrund der Flüchtlinge benachteiligt werden. Zur Lösung sind in erster Linie alternative Unterkünfte für Flüchtlinge bereitzustellen. Falls dies nicht zeitnah möglich ist, muss der Sportunterricht trotzdem ermöglicht werden. Beispielsweise können sich die Schulen bei der Unterbringung nach einigen Wochen abwechseln.

 

Andere Bildungseinrichtungen

Die hier gewählten Beispiele beziehen sich auf die Schulen. Selbstverständlich müssen auch alle anderen Bildungseinrichtungen (Kindertagesstätten, Hochschulen, außerschulischer Bildungsträger etc.) in die Lage versetzt werden, ihr bisheriges Angebot in vollem Umfang aufrechtzuerhalten und gleichzeitig die Herausforderung mit den Flüchtlingen bewältigen zu können. Aufgrund der Aufteilung des Haushalts auf verschiedene Einzelpläne haben wir uns hier auf schulische Beispiele beschränkt.

 

Durch unbürokratische Maßnahmen zusätzliche Ressourcen gewinnen

Die Zahl der zu beschulenden und zu integrierenden Flüchtlingskinder ist eine enorme Herausforderung. Sie zu meistern erfordert nicht nur mehr Mittel und Personal, sondern auch ein großes Engagement aller Betroffenen und außerordentliche politische Sorgfalt.

Zusätzliche, im System vorhandene Ressourcen müssen frei gemacht werden. Hierzu sind Schulen, Schulleitungen und Pädagog/innen von anderen Aufgaben und Verpflichtungen vorübergehend zu entlasten. Denkbar sind beispielsweise Abstriche bei den zu erstellenden Statistiken, den vielfältigen Abfragen oder der Externen Evaluation. Wir fordern das Kultusministerium auf, hier Freiräume an den Schulen vor Ort zu schaffen und so neben Mitteln und Stellen weitere Möglichkeiten zu schaffen, die bestehenden Herausforderungen eher zu meistern.

Die Maßnahmen sind baldmöglich auf allen Ebenen der Schulaufsicht umzusetzen. Die schulische Willkommenskultur und die längerfristige Integration der Flüchtlinge muss Priorität vor anderen Themen haben!

 

Sprache der Politik

Abschließend bittet der BLLV Sie um eine Maßnahme die keine finanziellen Mehrkosten verursacht:
Bitte verwenden Sie als verantwortliche Politikerinnen und Politiker eine Sprache, die den Herausforderungen angemessen ist. Bereits in unserer Sprache signalisieren wir, ob wir eine Willkommenskultur pflegen. Mit ihrer Sprache gibt die Politik nicht zuletzt unserer jungen Generation ein Vorbild, das Nachahmung finden wird – so oder so.

 

 

[*] Rechengrundlage: 50.000 Schüler entspricht bei einem Lehrer / Schüler-Verhältnis von 1 : 20 genau 2.500 Stellen. 2.500 Stellen entspricht bei einem durchschnittlichen Jahresgehalt von 50.000 € 125 Mio. €



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