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Schulversuch zeigt: So funktioniert Lernen ohne Noten

Die Universitätsschule Dresden setzt auf eigenverantwortliches, selbstbestimmtes Lernen ohne Schularttrennung mit viel individueller Begleitung. Die ARD-Doku „Schule ohne Druck“ zeigt, was Schülerinnen und Schüler auf diese Art lernen und leisten.

„Wir werden, wenn wir in die Zukunft schauen, nur dann besser sein als die Maschine der Computer, wenn wir miteinander kooperativ, kreativ, problemlösend unterwegs sind,“ sagt Prof. Anke Langner, Erziehungswissenschaftlerin an der Technischen Universität Dresden. „Die Arbeitswelt von morgen unterscheidet sich drastisch von der, die wir heute haben. Manuelle und kognitive Routineaufgaben werden ganz stark zurückgehen. Wir brauchen junge Erwachsene, die kritisch denken können, die kreativ sind, die Probleme lösen können und die kommunizieren und kooperieren können."

Weil eine dynamische Welt unter zunehmendem Einfluss künstlicher Intelligenz Menschen also auf eine ganz andere Weise fordern wird als bisher, muss Schule Kinder und Jugendliche deutlich anders auf ihre Zukunft vorbereiten, ist Langner überzeugt. Sie hat daher die Universitätsschule Dresden gegründet, die auf der Basis des erziehungswissenschaftlichen Forschungsstands Lernen anders organisiert als an deutschen Regelschulen üblich: Schülerinnen und Schüler bestimmen selbst, was sie wann und wo lernen und wann sie ihren Leistungsstand überprüfen wollen. Sie lernen ohne Klassenverbund alle gemeinsam bis zum Abschluss nach neun, zehn oder zwölf Jahren. Noten gibt es erst im Abschlussjahr, davor werden bei Leistungsnachweisen Prozentwerte für differenziert aufgeschlüsselte Kompetenzen vergeben.

Das eigene Lernen gestalten lernen

Nicht zuletzt der Ansatz der Leistungsrückmeldung steht auch im Mittelpunkt der ARD-Dokumentation „Schule ohne Druck? Deutschlands spannendster Schulversuch“ über die Dresdner Universitätsschule. Schulleiterin Langner betont, es brauche natürlich eine Wissensbasis. „Aber ich brauche nicht dieses Bulimielernen, wie viele es auch beschreiben, dass ich ganz viel Wissen in mich reinpresse, dass ich dann ganz kurz mal ausspucke, nämlich zur Prüfung und danach weiß ich es nicht mehr“, sagt die Erziehungswissenschaftlerin ganz im Sinne des BLLV, der ebenfalls immer wieder ein zeitgemäßes Verständnis von Lernen und Leistungsrückmeldung fordert.

Der Schulversuch in Dresden zeigt, dass Kinder und Jugendliche Verantwortung für Ihre eigene Lernentwicklung übernehmen und sie das enorm motiviert. Lehrkräfte greifen aber auch steuernd ein, wenn Lerninhalte aus den sogenannten Ateliers in Sprachen, Natur- und Gesellschaftswissenschaften zu selten gewählt werden und treffen dann eine entsprechende Zielvereinbarung für die kommenden Wochen – denn gelernt werden müssen auch an der Versuchsschule alle Inhalte, die im sächsischen Lehrplan stehen. Obwohl es dabei keine Klassen gibt, gibt es regelmäßig Projektarbeiten und gemeinsame Zwischenpräsentationen, um so Teamfähigkeit zu schulen.

Angst lernt nicht gut

Weil sich die Rolle der Lehrkräfte dabei deutlich in Richtung individueller Förderung und Lerncoaching ausweitet, will die Universitätsschule auch „Aus- und Weiterbildungsschule für zukünftige und derzeitige Lehrkräfte“ sein. Eine starke Flexibilisierung, die auch der BLLV in seinem Lehrkräftebildungsmodell vorschlägt, ist dabei ein zentraler Punkt.

Als größten Vorteil identifiziert die ARD-Dokumentation, dass eine solche Schule angstfreies Lernen ermöglicht. Ein Drittel aller deutschen Schülerinnen und Schüler haben laut Moderator Frank Seibert Versagensängste, vier Prozent werden mit konkreter Schulangst diagnostiziert: „Das heißt für über 300.000 Kinder und Jugendliche ist die Schule ein Angstort. Sie haben Leistungsangst, Versagensdruck, Angst vor Mobbing. Misserfolge häufen sich, das Selbstwertgefühl sinkt. Eine Abwärtsspirale, die zu kompletter Schulvermeidung führen kann. Die Rückkehr ins Bildungssystem gelingt oft nur mit therapeutischer Hilfe.“

Individuelle, prozessorientierte Leistungsrückmeldung motiviert

An der Dresdner Modellschule kommt es zu so etwas nicht, dank selbstverantwortlichen Lernens mit individueller Leistungsrückmeldung, die – wie auch vom BLLV gefordert – auch den Lernprozess berücksichtigt. Trotzdem ist der Leistungsstand der Schülerinnen und Schüler bei Tests im Durchschnitt gleichwertig wie an sächsischen Regelschulen.

Skeptisch äußert sich in der ARD-Dokumentation dennoch Susanne Lin-Klitzing, Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes. Sie fordert eine „pluralistische Gesellschaft“ brauche ein „plurales Schulsystem“ statt längerem gemeinsamem Lernen – auch um „Schülerinnen und Schüler, die in besonderer Weise befähigt sind“, angemessen zu beschulen.


Mentorenrolle fördert die Leistungsstarken

Dem hält Erziehungswissenschaftlerin Langner entgegen, dass die Praxis zeige, dass gerade auch leistungsstarke Kinder profitieren, wenn sie eine Mentorenrolle einnehmen: „Die Kollegen in der Mathematik haben nachgewiesen, dass bei Schülerinnen und Schülern, die gut in Mathematik sind, und die den schlechten immer wieder erklären, wie das geht, deren Grundvorstellungen abstrakter werden. Sie werden durch das Erklären viel besser in Mathematik.“

Die PISA-Zahlen, die immer wieder für kollektives Erschrecken ob des schlechten deutschen Abschneidens sorgen und leider häufig politische Schnellschüsse nach sich ziehen, belegen das ebenfalls: „In der Top Ten der PISA Studie sind nur Länder, in denen Kinder lange gemeinsam lernen“, analysiert die ARD-Doku.

Wer sichtbar etwas schafft, braucht weniger Fremdbewertung

Für Langner eine große Chance, „die große Schere zu minimieren“, die besonders in Deutschland in Sachen Bildungsgerechtigkeit weit offensteht, wie auch der BLLV immer wieder kritisiert. Die Schülerinnen und Schüler an der Versuchsschule wurden daher repräsentativ für die Bevölkerung ausgewählt mit unterschiedlichen sozioökonomischen Hintergründen. Anders als an Regelschulen scheint die Schere sich in Sachen Bildungserfolg aber durch das längere gemeinsame Lernen, das auch der BLLV als wichtige Gegenmaßname sieht, eben nicht noch weiter zu öffnen, sondern ein Stück weit zu schließen.

Dazu verknüpft die Universitätsschule Dresden einen ganzheitlichen Bildungsansatz des Erlebnislernens mit Projekten, die Teamfähigkeit über sozioökonomische Grenzen hinweg schulen. Auf dem Gelände einer alten Ziegelei sind Schülerinnen und Schüler beispielsweise für den Erhalt des Gebäudes und des Gartens verantwortlich, schneiden Hecken und backen zusammen Pizza in einem Ofen, den sie dafür erst selbst instandsetzen und befeuern. Lernbegleiterin Katja Wiechmann resümiert den Erfolg der Schülerinnen und Schüler bei diesem Lernen mit Herz, Kopf und Hand so: „Sie erleben eine Sinnhaftigkeit in einem ganz anderen Maß, weil am Ende ist immer etwas geschafft. Sie sind stolz, wenn sie etwas geleistet haben – ohne dass wir das bewerten müssen.“

Kein Kommentar aus der Politik

Moderator Frank Seibter fragt sich angesichts der vielen Vorteile des modernen Schulkonzepts in Dresden, warum sich im deutschen Bildungssystem so wenig ändert, trotz vieler von Eltern, Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern benannter Probleme. „Wie Bildung aussieht, ist ein Politikum und hängt am Programm der jeweils regierenden Partei in einem Bundesland“, beklagt Seibter und berichtet von monatelangen erfolglosen Versuchen „mit einer verantwortlichen Person aus der Politik“ oder der Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz insbesondere über das Thema Schulangst zu sprechen. Sein Fazit: „Steht wohl gerade nicht auf der Agenda, wie die 16 Bundesländer mit dem Stress und Druck ihrer Kinder umgehen wollen. Lösungsideen und Forschung gibt es dazu genügend und die Uni-Schule Dresden zeigt ja, was möglich ist, basierend auf wissenschaftlichen Forschungsergebnissen.“

Der bekannte Bildungsinfluencer Bob Blume konstatiert auf Nachfrage ebenfalls einen enormen Reformstau und sagt: „Mein großer Wunsch ist, dass wir so ein ganz kleines bisschen weggehen von dieser Mentalität der deutschen Gründlichkeit und ein bisschen mehr zum mutigen Handeln kommen, zum Experimentieren. Ich würde mir Verantwortliche wünschen, die sagen ‘Ach komm, wir probieren es jetzt einfach aus.‘ Der BLLV sieht ebenfalls starke Beharrkräfte im Bildungssystem und sieht derzeit die einzige Chance für diejenigen, die sich in der täglichen pädagogischen Arbeit damit konfrontiert sehen, bestehende Freiräume mutig zu nutzen.

Bildung gelingt am besten von Mensch zu Mensch

Den Ansatz der Universitätsschule Dresden wertet die ARD-Doku jedenfalls als „echte Pionierarbeit in Deutschland“. Schülerinnen und Schüler würden dort „lernen, dass ihre Interessen und Talente einen Wert haben, ohne dafür eine Note zu brauchen.“ Das Fazit: „Schule ohne großen Druck ist möglich. Gute Schule für alle heißt auch, dass alle eine gerechte Chance auf Bildung bekommen.“

Entscheidend aus Sicht des BLLV ist dabei, Bildung schülerzentriert und individuell zu denken und Grundsätze der Motivationslehre zu beherzigen bei der Frage, wie Lernen so gestaltet werden kann, dass nachhaltiger Bildungserfolg gelingt. Auch beim Dresdner Schulversuch zeigt sich, dass dafür die Begegnung von Mensch zu Mensch entscheidend ist – wie Erziehungswissenschaftlerin und Schulleiterin Anke Langner betont:

„Wir dürfen nicht vergessen, dass Schule nicht nur Leistung ist, sondern dass es genauso wichtig ist, dass man angenommen wird, dass man wertgeschätzt wird. Dann schaffen wir es auch, dass Schülerinnen und Schüler sich ihren Lernprozessen hingeben, ein sogenanntes ‘Flowerlebnis‘ spüren, in dem sie einfach Spaß daran haben, sich mit Inhalten auseinanderzusetzen.“

» Dokumentation in der ARD-Mediathek: „Schule ohne Druck? Frank Seibert und Deutschlands spannendster Schulversuch“