Petition des Forum Bildungspolitik in Bayern Positionen

Inklusion an Bildungseinrichtungen in Bayern

Nachdem Deutschland rund ein halbes Jahrzehnt lang erste Gehversuche mit der Inklusion unternommen hat, macht sich Ernüchterung und Enttäuschung breit. Aktionsbündnisse in vielen Bundesländern sind sich darin einig, dass der Status quo nicht befriedigt. Dies ist auch die ganz überwiegende Meinung der bayerischen Schülerinnen und Schüler-, Lehrkräfte- und Elternverbände sowie des Forum Bildungspolitik in Bayern.

Was wurde in Bayern bisher erreicht?

Dieses Positionspapier beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der schulischen Inklusion. Selbstverständlich ist Inklusion in allen Bildungseinrichtungen umzusetzen. Für den Schulbereich wurde im Jahr 2011 im Bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetz (BayEUG) eine gesetzliche Grundlage für die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Beeinträchtigungen geschaffen.

Schüler/innen mit Beeinträchtigungen besuchen Partnerklassen, Kooperationsklassen, Profilschulen und Regelklassen. Es wurden Schulen mit dem Schulprofil "Inklusion" (Art. 30b) geschaffen, etwas später die flexible Eingangsstufe der Grundschule, die als beispielhaft anzusehen ist. Einzelne Schulen oder Regionen entwickeln gute inklusive Konzepte.

Die Änderung des BayEUG hatte nach den eigenen Erklärungen der Bayerischen Staatsregierung nur den Rang eines Zwischenschritts auf dem Weg zur Inklusion. Die notwendige inhaltliche Weiterentwicklung ist jedoch derzeit aus Sicht des Forum Bildungspolitik in Bayern nicht erkennbar.

Folgende Probleme sind aus Sicht des Forum Bildungspolitik in Bayern zutage getreten:

  1. Partnerklassen, Kooperationsklassen und Profilschulen bündeln weiterhin Kinder mit Beeinträchtigungen und befinden sich zumeist – wie auch aufnehmende Regelklassen – nicht am Wohnort des betroffenen Kindes.

  2. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler an Förderschulen hat im Verhältnis zur Gesamtzahl der Schülerinnen und Schüler nicht abgenommen.

  3. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen hat insgesamt stark zugenommen.

  4. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen an weiterführenden Schulen ist äußerst gering.

  5. Durch die stark unterschiedliche Ausstattung der Angebote haben Eltern keine wirklich freie Wahl zwischen Förderschule und allgemeiner Schule.

  6. Den allgemeinen Schulen fehlen unterstützende pädagogisch qualifizierte Kräfte.

  7. Lehrerfortbildungen im Schnellverfahren greifen zu kurz.

  8. Die Vermittlung inklusiver Kompetenzen in der Lehrerbildung, insbesondere an den Universitäten, verläuft schleppend, es gibt weder Standards noch Kontrollen. Inklusionsanforderungen der LPO werden offenbar nicht eingehalten.

  9. Von öffentlicher Seite werden Eltern bei der Organisation eines inklusiven Schulbesuchs nicht ausreichend unterstützt und genehmigt Hilfen nur restriktiv. Dies stellt Eltern vor hohe bürokratische Hürden und benachteiligt sie.

  10. Eltern, die Inklusion wählen, haben bei Therapie, medizinischer Versorgung, Pflege sowie der Betreuung von Geschwisterkindern höchste organisatorische Hürden zu bewältigen. Dies bedeutet eine große familiäre Belastung.

  11. Eltern werden über ihre Rechte und die Rechte ihrer Kinder nicht ausreichend aufgeklärt.

  12. Die Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften und Eltern ist zu oft unbefriedigend und genügt zu selten den Anforderungen der hier erforderlichen Partnerschaft.

  13. Die Kooperation von Bildungs- und Sozialbereich genügt nicht. Außerhalb von Sondereinrichtungen sind viele Ressourcen schwer oder gar nicht zu bekommen. Beispiel 1: Kinder mit Beeinträchtigungen werden durch Verweigerung von Assistenzkräften von nicht verpflichtenden Nachmittagsangeboten ausgeschlossen. Beispiel 2: Beförderung und notwendige Begleitung von Kindern zu inklusiven Angeboten müssen häufig erst auf dem Rechtsweg durchgesetzt werden, oder Eltern müssen selbst in die Bresche springen.

  14. Kinder mit Beeinträchtigungen werden in allgemeinen Schulen häufig nicht nach dem individuellen Förderplan gem. BayEUG Art. 30 a, sondern weiter nach Lehrplänen der Förderschule unterrichtet. Dies stellt keinen inklusiven Unterricht dar.

  15. Der Grundgedanke, dass Inklusion alle Schülerinnen und Schüler betrifft – und nicht nur jene mit Beeinträchtigungen – ist zu wenig verbreitet. So stehen pädagogische Förderangebote für Kinder mit Beeinträchtigungen (z.B. individuelle Leistungsbeschreibung anstelle von Noten) anderen Schülerinnen und Schülern nicht zur Verfügung. Derartige Sonderrechte befördern zwar die Integration, echte Inklusion wird dadurch jedoch nicht erreicht.

  16. Ein gegliedertes Schulwesen mit Zugangsbeschränkungen ist für die Inklusion nicht förderlich steht der Inklusion grundsätzlich im Weg.

Die UN-BRK ist noch nicht umgesetzt

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) sieht in Art. 24, Abs. 2 Folgendes vor:

„Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass

a) Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden;

b) Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen [inklusiven], hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben;

c) angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen getroffen werden;

d) Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung geleistet wird, um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern;

e) in Übereinstimmung mit dem Ziel der vollständigen Integration [Inklusion] wirksame individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen in einem Umfeld, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet, angeboten werden.“

Inklusion steht und fällt mit der uneingeschränkten Bereitstellung der notwendigen Kompetenzen und Ressourcen. Die oben genannten Probleme, die zutage getreten sind, resultieren überwiegend daraus, dass das BayEUG keinen Rechtsanspruch auf eine inklusive Schule begründet. Somit hängt es vielfach von der Einschätzung von Schulleitungen und Schulämtern sowie von der Kassenlage von Kommunen und Bezirken ab, welche Mittel gewährt werden.

Gut sechs Jahre nach der Änderung des BayEUG zur schulischen Inklusion ist es nun an der Zeit, für einen Rechtsanspruch und für Verbindlichkeit zu sorgen.

 

Das Forum Bildungspolitik fordert folgende notwendigen Maßnahmen

 

Um die UN-BRK umzusetzen, der Inklusion zur Normalität zu verhelfen und den Problemen im Einzelnen abzuhelfen, mahnt das Forum Bildungspolitik in Bayern die folgenden Maßnahmen für staatliche Schulen an. Wir sind uns bewusst, dass es für Schulen in freier Trägerschaft im Rahmen ihres Verfassungsauftrags und der UN-BRK Gestaltungsspielräume geben muss.

  1. Im BayEUG wird ein Rechtsanspruch auf Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention an bayerischen Schulen gem. Art. 24 eingeführt.

  2. Allgemeine Schulen müssen für Kinder mit Beeinträchtigungen die gleichen Ressourcen bekommen wie Schulen zur sonderpädagogischen Förderung.

  3. Um eine inklusive Lebenswelt zu befördern, bei der jeder in seiner Eigenart geschätzt und respektiert wird ("inklusive Haltung"), wird in allen allgemeinen Schulen Schulsozialarbeit eingeführt und weiterentwickelt.

  4. Individualassistenz wird auch außerhalb des Pflichtunterrichts gewährt, um Kindern uneingeschränkten Zugang zu nachmittäglichen Bildungs- und Betreuungsmöglichkeiten zu sichern. 

  5. Für alle Kinder ist die räumliche Situation der allgemeinen Schulen zu verbessern (Ruhe- und Rückzugsbereich, Therapieräume, separater Pflegebereich, Platz für Gruppenarbeit, Barrierefreiheit durch bedarfsgerechte technische Ausstattung); ferner ist Raum für Team- und Elterngespräche bereit zu stellen.

  6. Förderschulen werden weiterentwickelt zu Kompetenz- und Beratungszentren mit Schulangebot für Ausnahmefälle, für die an allgemeinen Schulen die notwendigen und angemessenen Vorkehrungen nicht bereitgestellt werden können. Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen werden vermehrt an allgemeinen Schulen eingesetzt und haben dort einen inklusionsorientierten Auftrag, insbesondere bei der Planung und Umsetzung der notwendigen und angemessenen Vorkehrungen. 

  7. Jeder allgemeinen Schule wird mindestens eine halbe Planstelle für eine Lehrkraft für Sonderpädagogik zugewiesen, die fest zum Lehrerkollegium gehört.

  8. Allgemeine Schulen und sonderpädagogische Kompetenz- und Beratungszentren bilden komplexe regionale und förderschwerpunktübergreifende Unterstützungssysteme.

  9. Die allgemeinen Schulen bekommen ein eigenes Budget für Zusatzkräfte mit pädagogischer, pflegerischer, therapeutischer Qualifikation – über das sie nach eigenem Bedarf selbst verfügen können. Dies können zum Beispiel Erzieherinnen und Erzieher, Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Heilerziehungspflegerinnen und Heilerziehungspfleger, Diplompädagoginnen und Diplompädagogen oder Pflegekräfte sein. Die Zuteilung von Förderlehrerinnen und Förderlehrer ist auszuweiten.

  10. Diese unterschiedlichen Professionen kooperieren in Teams, insbesondere bei der Schulentwicklung, der Unterrichtsplanung sowie der pädagogischen und sozialen Arbeit in den Gruppen.

  11. Die Leitung einer Lerngruppe ist für die lernprozessbegleitende Diagnostik und individuelle Bildungsplanung aller Schülerinnen und Schüler ihrer Gruppe verantwortlich. Sie wird dabei von ihrem multiprofessionellen Team unterstützt.

  12. Neben individuellen Schulbegleitern / persönlichen Assistenten / Individualassistenten werden auch Poollösungen ermöglicht. Die Assistenten / Schulbegleiter verfügen über eine pädagogische Basisqualifikation, die auch berufsbegleitend erworben werden kann.

  13. Das pädagogische Personal jeder Schule wird verpflichtend für Inklusion aus- und weitergebildet.

  14. Inklusivpädagogische Basiskompetenzen werden in allen pädagogischen Studien- und Ausbildungsgängen prüfungsrelevant verankert.

  15. Zwischen Gruppen-/Klassleiter/in und Erziehungsberechtigten wird für die individuelle Bildungsplanung eine partnerschaftliche Zusammenarbeit institutionalisiert. Hierfür findet einmal im Jahr (auf Antrag der Erziehungsberechtigten zweimal) eine gleichberechtigte Zusammenkunft statt, an der bei Bedarf weitere Pädagoginnen und Pädagogen, Therapeutinnen und Therapeuten oder Betreuer des Kindes teilnehmen.

  16. Zur Genehmigung aller Ressourcen aus einer Hand werden dezentrale und behördenübergreifende Stellen geschaffen. Streit um Zuständigkeit führen die beteiligten Behörden unter sich und erst nach der Genehmigung der Mittel.

  17. Alle Kinder der Grundschule, auch Schülerinnen und Schüler ohne Beeinträchtigungen, bekommen das Recht auf eine individuelle Leistungsbeschreibung anstelle von Noten.

  18. Die Bildung aller Kinder, auch jener ohne Beeinträchtigungen, wird auf Grundlage eines inklusiven Lehrplans der allgemeinen Schule individuell geplant.

  19. Ein inklusiver lernzieldifferenter Unterricht wird zum Standard für den gesamten Unterricht aller Schülerinnen und Schüler.