Projekt Erinnern: Idee und Umsetzung

Spurensuche im Sinne des Geschichtswerkstätten-Ansatzes

Das Projekt Erinnern existiert seit 2009. Schwerpunkt des Projekts sind Lehrer jüdischer Herkunft. Daneben werden auch Lebensgeschichten von anderen verfolgten Lehrern erarbeitet. Im Sinne der Geschichtswerkstätten-Bewegung gehen Schüler auf Spurensuche und erstellen Biographien von ehemaligen Lehrern aus ihrer Stadt oder ihrem Ort. Stück für Stück sollen ihre Lebenswege erforscht und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Darüber hinaus geht es dem BLLV darum, die pädagogische Arbeit, die vor der NS-Herrschaft in den jüdischen Gemeinden stattfand, wieder sichtbar zu machen.

Die Projektleitung

Wissenschaftliche und pädagogische Leiterin des Projektes "Gedächtnisbuchs für die Häftlinge des KZ Dachau“ im Auftrag des Trägerkreises Gedächtnisbuch ist seit 1999 Sabine Gerhadrus. Für den Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) koordiniert sie das Biographie-Projekt. Zu Beginn des Projekts in Jahren 2005 bis 2008 recherchierte Sabine Gerhardus in zahlreichen Archiven und erstellte die Datenbank jüdischer Lehrerinnen und Lehrer, die in Bayern zwischen 1900 und dem Holocaust lebten und unterrichteten. Seit 2008 betreut sie die Schülerinnen und Schüler der W-Seminare, die an dem Projekt mitarbeiten.

Kooperation mit dem "Gedächtnisbuch für die Häftlinge des KZ Dachau"

Bei der Betreuung von Schülern kooperiert der BLLV eng mit dem "Gedächtnisbuch für die Häftlinge des KZ Dachau". Unter "Namen statt Nummern" erinnert das Gedächtnisbuch an einzelne Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau. Es trägt dazu bei, sie aus der anonymen Masse derer, die unter der Verfolgung der Nationalsozialisten gelitten haben, herauszuheben und als Individuen wieder sichtbar zu machen. Seit 1999 engagieren sich ehrenamtliche Mitarbeiter für dieses Projekt, darunter viele Schüler und Schülerinnen. Sie recherchieren inArchiven, führen Interviews mit Zeitzeugen und verfassen individuell gestaltete, mit Dokumenten und Fotos illustrierte "Gedächtnisblätter". So wird das "Gedächtnisbuch Dachau" ständig um neue Beiträge erweitert. Diese Gedächtnisblätter erzählen von Menschen, die aus vielen Gegenden Europas nach Dachau verschleppt wurden. Die Sammlung liegt auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte aus.

 

Eine Zusammenarbeit des Projekts Erinnern mit dem Gedächtnisbuch bietet sich an: Zahlreiche jüdische Lehrer wurden im November 1938 verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau gebracht. Gedächtnisblätter über diesen Personenkreis werden in beiden Projekten veröffentlicht. Ein weiterer Vorteil für manche W-Seminare: Schüler können je nach Interesse einen Namen aus beiden Projekten wählen – das ist besonders interessant für Schüler aus Orten, an denen es keine jüdische Gemeinde gab, und die dennoch gerne einen lokalen Bezug zu "ihrer" Person herstellen möchten. Über die verschiedenen Arbeiten im Kurs erhalten die Schüler dann einen Einblick in eine große Bandbreite von Einzelschicksalen.

Inhaltliche Ziele

1. Im Rahmen des Projekts sollen Erkenntnisse über die berufliche und lebensalltägliche Situation der jüdischen Lehrerinnen und Lehrer sowie über die Geschichte der jüdischen Schulen in Bayern gewonnen werden. Auf diese Weise leistet das Projekt einen wichtigen Beitrag zum Erhalt der Erinnerung an jüdisches Leben in Bayern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

2. Das Projekt dokumentiert die Verfolgung von Lehrerinnen und Lehrern während der NS-Zeit: Es soll beleuchtet werden, in welchem Maße jüdische und nicht-jüdische Lehrer aus rassischen und politischen Gründen verfolgt, verhaftet und durch den Völkermord bedroht wurden sowie ob, wie und unter welchen Bedingungen sie emigrieren konnten.

3. Schließlich können darüber hinaus Aspekte des Zusammenlebens von Juden und Christen in den Gemeinden betrachtet werden. Jüdische Lehrkräfte waren häufig stark in das kulturelle Leben der christlich-jüdischen Dörfer eingebunden. Über diesen Zugang wird die besondere Situation jüdischer Lehrer im christlichen (und nicht selten antisemitischen) Umfeld herausgearbeitet.

Pädagogische Ziele

1. Die Recherche von Einzelbiografien stellt eine Form des "aktiven Lernens" dar. Über ein solches Spurensucheprojekt können sich die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler einen Teilbereich des Nationalsozialismus erschließen – auf eine sehr personalisierte Weise, die sich von der üblichen Bearbeitung des Themas in Schulen abhebt.

2. Durch die Annäherung an individuelle Schicksale werden Schüler mit den Auswirkungen von Ausgrenzung, Verfolgung, Terror, Gewalt, Ghettoisierung und Rassismus auf das Leben eines einzelnen Menschen konfrontiert und zum Nachdenken über Werte wie Toleranz, Demokratie und Zivilcourage angeregt. Dadurch soll die grundsätzliche Bereitschaft zu gesellschaftspolitischem Engagement gefördert werden.

3. Durch die Auseinandersetzung mit dem Arbeits- und Lebensalltag von jüdischen Lehrern in Bayern werden Schüler mit einem Teil europäischer Kultur konfrontiert, der in Deutschland fast schon in Vergessenheit geraten ist. Sie erhalten Gelegenheit, Kultur, Bildungstradition, Bräuche, Feste und Feiertage kennen zu lernen, die während der Weimarer Republik in vielen Gemeinden Bayerns zum Alltag gehörten.

4. Das Projekt soll den Teilnehmenden sowohl historisches Wissen als auch methodische Kenntnisse vermitteln. Dazu zählen Methoden der Recherche, Quellenarbeit, Oral-History-Techniken, Erzählen und Schreiben eines historischen biografischen Textes.

Zielgruppen

Das Projekt richtet sich vor allem an Lehrer und Schüler der höheren Altersstufen in den weiterführenden Schularten in Bayern. Es kann sowohl einzelnen Schülern als auch Arbeitsgruppen oder Schulklassen angeboten werden.

Zur Durchführung von eigenständigen Recherchen nach Lebensgeschichten bietet sich insbesondere ein Kooperationsprojekt für W-Seminare in den geisteswissenschaftlichen Fachbereichen der Gymnasien an. In diesen Seminaren können Schüler eine Biografie für das Projekt erstellen und diese für ihre Seminararbeit nutzen. Für AGs und Klassen anderer Schularten können eigene Formen der Zusammenarbeit erarbeitet werden.Schüler beim W-Seminar Geschichte in Grafing.

Projektablauf

1. Betreuung durch die Lehrkraft

Die Teilnahme am Projekt erfordert zunächst die Betreuung der Schüler durch einen Lehrer, der die Arbeit der Schüler vor Ort pädagogisch begleitet und im engen Kontakt zur Projektleitung steht. Interessierte Lehrer können in Abstimmung mit der Projektleitung ein passendes Konzept für ihren Kurs entwickeln und werden bei der Durchführung des Projekts unterstützt.

 

2. Recherche

Schüler erhalten die Möglichkeit, sich nötiges historisches Hintergrundwissen anzueignen, Literatur zu nutzen und Methoden der Recherche und des wissenschaftlichen Umgangs mit historisch-biografischen Quellen kennenzulernen. Sie erarbeiten sich Grundkenntnisse der Entstehung von historischen Quellen und der Organisation von staatlichen und nicht-staatlichen Archiven und werden dabei unterstützt, einen individuellen Rechercheplan zu entwickeln und umzusetzen. Quellenkritik sowie die Auswertung der gefundenen Quellen wird anhand von Beispielen geübt und in der eigenen Recherche umgesetzt. Der Prozess des Schreibens und Dokumentierens wird begleitet. 

 

3. Erarbeiten einer Biografie

Projektziel ist es, einen Biografie-Text über einen jüdischen oder einen aus rassischen oder politischen Gründen verfolgten Lehrer zu verfassen. Die Teilnehmenden werden dazu angehalten, möglichst sorgfältig zu arbeiten und selbst auf historische Richtigkeit zu achten (Zitieren, Quellenangaben, Widersprüche kennzeichnen). Gleichzeitig werden sie ermutigt, eine Erzählung über das Leben der jeweiligen Person zu schaffen. Dem jeweiligen Lebenslauf entsprechend können die Verfasser eigene Schwerpunkte in der Darstellung setzen. Nach Möglichkeit sollen die Schüler Nachkommen oder auch ehemalige Schüler der Person aufspüren und als Interviewpartner in die Biografie mit einbeziehen. Der Text wird mit Hilfe der Projektbetreuerin korrigiert, meist in mehreren Korrekturläufen, bevor er veröffentlicht werden kann. 

 

4. Gestalten eines Gedächtnisblattes

Mit dem freigegebenen Biografie-Text gestalten die Teilnehmenden ein so genanntes Gedächtnisblatt auf vier DIN A 3 Seiten. Darauf wird die Lebensgeschichte mit Textbausteinen und Bildern grafisch individuell gestaltet dargestellt. Diese Gedächtnisblätter werden nach Abschluss des Projekts in der Geschäftsstelle des BLLV in München ausgestellt.

 

5. Ausstellung und Veröffentlichung

Die Ergebnisse der Projektarbeit werden zum einen als Gedächtnisblätter in den Räumen des BLLV ausgestellt. Biografien, die über Lehrer entstehen, die im Konzentrationslager Dachau inhaftiert waren, werden darüber hinaus auch im Gedächtnisbuch Dachau veröffentlicht. Einige Biografie-Texte werden auf der Website des BLLV veröffentlicht. Auf diese Weise wird die Datenbank über jüdische Lehrerinnen und Lehrer in Bayern stetig erweitert und dient interessierten Laien, aber auch Historikern für ihre Recherchen.