Die Schule der Zukunft. Lernen und Leistung im 21. Jahrhundert

Beschluss der 55. Landesdelegiertenversammlung des BLLV vom 18.-20. Mai 2023

„Die Pandemie verstellt uns oft den Blick auf das Weiterdenken. Ich glaube, da ist die große Gefahr: Dass wir so darauf fokussiert sind, dass wir einfach nicht sehen, wie die Zukunft uns jeden Tag wieder neu überraschen wird.“ – OECD Bildungsdirektor Andreas Schleicher beim >> BLLV-Impuls „Schule im 21. Jahrhundert gestalten“

Die Gesellschaft als Ganzes und auch das Bildungssystem sind nun bereits seit geraumer Zeit im Krisenmodus. Der Lehrermangel, die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg – die Aufgaben, die an die Schulen gestellt werden, nehmen zu. On top zu den bereits bestehenden großen Herausforderungen wie Inklusion, Integration, Digitalisierung, Ganztagsschule und die individuelle Förderung. Aber wo soll das Ganze eigentlich hinführen? Wie kann eine Schule von morgen ganz konkret aussehen?

Wir müssen weiterdenken! Wir brauchen eine Vision zur Schule der Zukunft! Diese kann uns in diesem großen Krisen-Dschungel eine Orientierung bieten und zeigt uns auch, welche Richtungen wir nicht einschlagen sollten. Der BLLV hat sich über viele Jahre intensiv mit der Frage beschäftigt, wie zeitgemäßes Lernen und damit eine zeitgemäße Schule im 21. Jahrhundert ganz konkret aussehen kann. Über allem steht dabei die Eigenverantwortung der Schule vor Ort: Durch die Schaffung von Freiräumen und durch deren Nutzung kann jede Schule zu einem Leuchtturm werden.

1. Die Schule der Zukunft ist ein lebendiger Ort ganzheitlichen Lernens

Schule ist sowohl Teil als auch Abbild von Gesellschaft. Deshalb müssen auch das Schulleben und die Bildungsinhalte diese Gesellschaft als Ganzes widerspiegeln. In der Schule der Zukunft sind das Lernen und das Leben, der Lehrplan und die gesellschaftlichen Entwicklungen nicht zwei künstlich voneinander getrennte Dinge, sondern ein Ganzes.

Gewährleistet wird dies unter anderem durch demokratiepädagogische Angebote, wie Lernen durch Engagement-Projekte oder den Klassenrat im Rahmen einer gelebten Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) im Hintergrund einer engen kommunalen Vernetzung mit allen relevanten Akteuren des gesellschaftlichen Miteinanders (z.B. Kommunalpolitik, Gesundheitssystem, Behörden etc.).

In der Schule der Zukunft wird im Hintergrund eines zeitgemäßen Leistungsverständnisses sowohl instruktiv als auch selbstorganisiert gelernt. Die Lehrerinnen und Lehrer sowie die Schülerinnen und Schüler können ihre Lernwege und -fortschritte transparent nachvollziehen und jederzeit individuell anpassen. Dafür stehen ihnen auch entsprechende Zeitressourcen zur Verfügung, insbesondere in Form von fest in den Schulalltag integrierten Selbstlernzeiten und regelmäßigen individuellen Feedback- bzw. Lernentwicklungsgesprächen. Ermöglicht und unterstützt wird diese Art des Lernens im Zeitalter der Digitalität durch eine zeitgemäße Hardware-Ausstattung und passgenaue Lernmanagementsysteme.

Der Fokus des Lernens liegt in der Schule der Zukunft neben den sozial-emotionalen Aspekten auf dem Erleben und dem Verstehen, die wiederum auf Authentizität, Interesse und Neugier fußen. Nicht abstrakter Unterrichtsstoff aus Büchern, sondern authentische Probleme und Phänomene des realen Lebens prägen die Lernerfahrungen der Kinder und Jugendlichen. Das Lernen orientiert sich nicht an den Defiziten, sondern an den Potenzialen der einzelnen Schülerinnen und Schüler.

Dabei spielen naturwissenschaftlich-mathematische Probleme und Erfahrungen eine genauso wichtige Rolle wie sprachlich-kulturelle, künstlerische, körperliche, soziale und persönlichkeitsbezogene – die Schule der Zukunft bildet jedes Individuum ganzheitlich mit Herz, Kopf und Hand. Neben allgemeinbildendem Wissen erwerben die Schülerinnen und Schüler in der Schule der Zukunft insbesondere Resilienz, ein reflektiertes Urteilsvermögen und Problemlösekompetenz, um auch in Krisensituationen reflektierte und verantwortungsvolle Entscheidungen treffen zu können. Besonders wird dabei durch eine entsprechende Tagesstruktur mit ausreichend Bewegung, einer gesunden Ernährung sowie weiteren Angeboten auf das Wohlergehen und die Gesundheit aller an Schule Beteiligten geachtet.

Der Erfolg wird in der Schule der Zukunft insbesondere durch eine gelebte Feedbackkultur gewährleistet. Feedback ist dabei keine Einbahnstraße: Sowohl die Schülerinnen und Schüler als auch die Lehrerinnen und Lehrer sowie die Schule als Ganzes entwickeln sich auf der Basis der gesammelten Erfahrungen, Daten und wechselseitig konstruktiven Rückmeldungen kontinuierlich weiter, auch im Sinne einer zeitgemäßen Lehrerbildung.



2. Vieles ist bereits heute möglich!

Auf den ersten Blick mag eine solche Schule der Zukunft nicht visionär, sondern illusorisch wirken, aber dieser Eindruck täuscht. Immer mehr Schulen machen sich sehr erfolgreich auf den Weg und beginnen damit, Demokratie an der Schule zu leben, Feedback systematisch in den Schulalltag zu integrieren, das Schulleben nachhaltig zu gestalten oder selbstorganisiert zu lernen.

Auch wenn die strukturellen Rahmenbedingungen des Schulwesens diesen Anliegen des Öfteren im Wege stehen, gibt es an jeder Schule Spielräume, sich in die eine oder andere Richtung weiterzuentwickeln. Die zahlreichen Preisträgerschulen des Deutschen Schulpreises verdeutlichen dies eindrucksvoll. Leider sind unter den Preisträgerschulen kaum bayerische Schulen zu finden, was vor allem auf die bildungspolitischen Rahmenbedingungen zurückzuführen ist: In Bayern sind die Spielräume vor Ort aufgrund zahlreicher, den Handlungsspielraum einschränkender Vorgaben verhältnismäßig gering. Hier braucht es einen Paradigmenwechsel hin zu mehr Innovation durch eine eigenverantwortliche Schule vor Ort.

3. Die Schule der Zukunft braucht echte Eigenverantwortung

Die Aufgabe des Staates ist es, gute Rahmenbedingungen für die Bildung der Kinder und Jugendlichen zu schaffen. Der Schlüssel zu guter Bildung liegt jedoch nicht in detaillierten staatlichen Vorgaben, sondern in der passgenauen Umsetzung vor Ort. Passgenauigkeit kann nur durch ein hohes Maß an Freiräumen hergestellt werden: Freiräume hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung von Lehr-Lern-Prozessen und Freiräume hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Ressourcen zur Umsetzung.

Sowohl bei der konkreten Ausgestaltung als auch hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Ressourcen werden Schulen heute ausgebremst. Zahlreiche bürokratische Vorgaben schränken den Handlungsspielraum von Schule ein und an allen Ecken und Enden fehlen Ressourcen: Übertritt, Sanierungsstau, Digitalisierungsstau, Lehrermangel. Unter diesen Voraussetzungen werden Visionen und Innovationen im Bildungssystem bereits im Keim erstickt.

Der BLLV fordert:

  • Eigenverantwortliche Schule: Die zahlreichen staatlichen Vorgaben hinsichtlich der Ausgestaltung von Schule müssen reduziert werden. Schulen müssen durch eine möglichst niedrigschwellige Schaffung von Freiräumen die Möglichkeit erhalten, innovative Schul- und Unterrichtsformen ergebnisoffen zu implementieren und zu erproben. Dazu ist es dringend notwendig, den Lehrerinnen und Lehrern sowie den Schulleitungen mehr Zeitressourcen für die Schul- und Unterrichtsentwicklung zur Verfügung zu stellen.
  • Individuelle Förderung: Es müssen im Hintergrund eines zeitgemäßen Leistungsbegriffs Rahmenbedingungen geschaffen werden, die eine individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern in Form von selbstorganisiertem Lernen, individuellen Lernentwicklungsgesprächen und Prüfungsterminen sowie passgenauen Lernmanagementsystemen ermöglichen. Der Staat muss hierzu insbesondere Freiräume hinsichtlich der Gestaltung von Stundentafeln schaffen, Prüfungsregelungen anpassen und eine entsprechende Infrastruktur zur Verfügung stellen. Dazu zählen auch ausreichende Zeit- und Personalressourcen zur individuellen Förderung.
  • Übertritt: Das Übertrittsverfahren von den Grund- auf die weiterführenden Schulen mit seinem Fokus auf verbindlichen notenbasierten Übertrittszeugnissen muss, wie es in anderen Bundesländern bereits häufig der Fall ist, im Sinne der in diesem Papier beschriebenen Aspekte des Lernens zu einer unverbindliche Schullaufbahnempfehlung umgewandelt werden, auf dessen Basis die Eltern mit ihren Kindern informiert eine freie Entscheidung bezüglich des Übertritts treffen können.
  • Feedbackkultur: Der Staat hat dafür Sorge zu tragen, dass eine gelebte konstruktive Feedbackkultur an allen Schulen zum Standard wird und muss dafür auch eine entsprechende niedrigschwellige und benutzerfreundliche Infrastruktur zur Verfügung stellen.
  • Demokratie, Nachhaltigkeit und sozial-emotionales Lernen: Demokratiepädagogische Ansätze (wie z. B. der Klassenrat oder Lernen durch Engagement) und weitere Maßnahmen der Bildung für nachhaltige Entwicklung müssen an allen Schulformen strukturell verankert werden. Methoden des sozial-emotionalen Lernens sind flächendeckend in den Schulalltag zu implementieren. Der Staat muss hierzu zielführende Fortbildungsmaßnahmen und Implementierungshilfen zur Verfügung stellen.
  • Ganzheitlich lernen mit Herz, Kopf und Hand: Die Fächerhierarchie muss überwunden und individuelle Schwerpunktsetzungen erleichtert werden. Erfolgreiches Lernen erfordert eine ganzheitliche Förderung des Individuums. Unterschiedliche Fächer oder Domänen dürfen nicht hierarchisiert oder gegeneinander ausgespielt werden, sondern sollten möglichst domänenübergreifend zusammengedacht werden – stets ausgerichtet an den Interessen und Potenzialen des einzelnen Kindes.
  • Lehrerbildung: Die genannten Facetten einer Schule der Zukunft müssen auch in der Lehrerbildung in allen drei Phasen maßgeblich berücksichtigt und behandelt werden. Am besten gelingt dies langfristig durch eine enge Verzahnung von Theorie und Praxis und des Erwerbs von Feedback- und Reflexionskompetenz im Sinne des lebenslangen Lernens.