Moderne Gedenkkultur

Im Rahmen der Gedenkfeier des BLLV zu Ehren der während der NS Gewaltherrschaft verfolgten und ermordeten Lehrerinnen und Lehrer jüdischer Herkunft sprach Dr. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, über die Frage wie 70 Jahre nach der Shoah das Gedenken an die Ermordung der Juden in Europa gelingen kann.

Jeder von uns war einmal Schüler. Und jeder von uns hatte Lehrer, die man richtig klasse fand, und Lehrer, die man nicht mochte. Und ebenso erinnern wir uns an nette Klassenkameraden und an solche, die wir lieber nicht in der Klasse gehabt hätten. Das ist völlig normal. Und das wird euch, liebe Schülerinnen und Schüler, heute nicht anders gehen. Doch, egal ob nun sympathisch oder nicht, ist eines für uns alle völlig unvorstellbar: Das manche Lehrer aufgrund einer bestimmten Eigenschaft – sagen wir: Haustierbesitzer – plötzlich nicht mehr unterrichten dürfen. Und Schüler, die ein Haustier besitzen, dürfen nicht mehr die gleiche Schule besuchen. Und erst recht können wir uns nicht vorstellen, dass diesen Lehrern und Schülern sogar ihr Recht auf Leben abgesprochen würde. Dass sie umgebracht würden.

Doch genau dies ist vor nunmehr 70 bis 80 Jahren geschehen. Denn die Entscheidung der Nationalsozialisten, den Juden dieses Recht auf Leben abzusprechen – diese Entscheidung war letztlich genauso willkürlich wie eben meine Einteilung in Haustierbesitzer und Menschen ohne Haustiere.

Warum habe ich dieses merkwürdige Beispiel gewählt? Weil es mit wachsendem zeitlichen Abstand immer schwerer wird zu begreifen, was damals passiert ist. Weil es nur natürlich ist, wenn sich junge Menschen heutzutage zuerst fragen: Was hat das alles noch mit mir zu tun? Warum soll ich mich mit Verbrechen beschäftigen, die fast ein Jahrhundert zurückliegen? Selbst meine Großeltern waren damals noch Kinder. Oder: Meine Großeltern lebten gar nicht in Deutschland, nicht einmal in Europa. Was haben wir damit zu tun?

Mehr als 70 Jahre nach Kriegsende und in unserer multikulturellen Gesellschaft stehen wir vor der Aufgabe, eine moderne Gedenkkultur zu entwickeln, die auf diese berechtigten Fragen von jungen Leuten eine Antwort gibt. Dabei gibt es eine besondere Schwierigkeit: die Zahl der Zeitzeugen sinkt dramatisch. Zeitzeugen sind in meinen Augen besonders wertvoll, weil sie den abstrakten Daten und Zahlen ein Gesicht geben. Es ist das einzelne Schicksal, das Menschen auch heute noch berührt. Wenn ein Mensch, der das Konzentrationslager Dachau überlebt hat, in einer Schulklasse seine Lebensgeschichte erzählt, haben zum Schluss meistens alle Tränen in den Augen. Nicht nur der Zeitzeuge. Auch die Zuhörer.

Die Zeugen des grausamen Geschehens schaffen Empathie. Das kann kein Geschichtsbuch so intensiv leisten. Ich habe hohen Respekt vor Schoa-Überlebenden, die bereit sind, über ihr Schicksal zu sprechen und sich den Fragen junger Menschen zu stellen. Wir sind es ihnen schuldig, die Flamme der Erinnerung am Leuchten zu halten. Das gilt auch, wenn sie nicht mehr unter uns sind.

Gedenken in einer Einwanderungsgesellschaft

Die drängende Frage stellt sich: Wie vermitteln wir die historischen Kenntnisse und schaffen zugleich Empathie mit den Opfern ohne Zeitzeugen? Ich hatte es eben schon erwähnt: Das ist mit wachsendem zeitlichen Abstand und in einer Einwanderungsgesellschaft eine besondere Herausforderung. Jugendliche sind heute ganz anders geprägt als noch vor 20 Jahren. Durch das Internet, die sozialen Netzwerke sowie Smartphone und Tablet werden junge Menschen sehr viel stärker als früher von visuellen Eindrücken geleitet.

Also, in einer KZ-Gedenkstätte zu stehen, wo außer Mauerfundamenten von den Baracken nichts mehr zu sehen ist und nur eine Tafel darauf hinweist, was hier einmal stand – das erreicht viele junge Leute nicht mehr. Sie brauchen wohl noch stärker als frühere Generationen eine andere – wenn ich mal so sagen darf – Aufbereitung der Vergangenheit. Ebenso sind sie daran gewöhnt, dass alle Informationen rund um die Uhr uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Orte, die eigens aufgesucht werden müssen; Museen mit festen Öffnungszeiten – das sind Dinge, die in den Lebensrhythmus und die Lebensgewohnheiten der unter 30-Jährigen nicht passen.

Daneben haben immer mehr junge Menschen in Deutschland ihre familiären Wurzeln im Ausland. Die Erfahrung von Kriegen oder Krisen sind jedoch in vielen Migrantenfamilien bis in die Generation der Kinder und Jugendlichen durchaus vorhanden, was in deutschen Familien nicht der Fall ist.

Schon allein deshalb müssen wir sie differenziert betrachten. Vor allem aber haben Migranten in Deutschland in der Regel überhaupt keinen familiären Bezugspunkt zum Nationalsozialismus und zur Schoa.

Es fehlt nicht nur dieser Bezug. Die Einwanderer sind mit anderen Arten des Gedenkens und mit anderen wichtigen Ereignissen ihrer Geschichte aufgewachsen. Sind sie mit der Schoa konfrontiert, suchen sie unwillkürlich ihre Vergleichspunkte, um das Geschehen einzuordnen. Daher haben wir es mit einer völlig anderen Herangehensweise an das Thema zu tun als bei Kindern mit deutschen Eltern und Großeltern.

Die sprachliche Ungenauigkeit verzeihen Sie mir bitte: Mir ist klar, dass auch viele Migranten der heutigen Elterngeneration inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Aber der Begriff „Bio-Deutsche“ klingt mir zu sehr nach Gemüse.

Eine moderne Gedenkkultur kann der aktuellen Verfasstheit der Gesellschaft nicht ausweichen. Sicherlich wollen wir nicht und sollten wir nicht die Erinnerungspolitik von kurzfristigen Stimmungswechseln abhängig machen oder gar von populistischen Forderungen. Sonst käme eine Beliebigkeit in unser Gedenken, die es seines Sinnes berauben würde. Unsere Gedenkkultur kann sich aber auch nicht völlig losgelöst von gesellschaftlichen Veränderungen entwickeln. Daher müssen wir immer wieder neue Wege finden – und das gilt für die Gedenkstätten und vor allem für die Schulen.

Schoa im Unterricht ist Herausforderung für Lehrer

Die Schoa im Unterricht zu vermitteln, war schon immer eine große Herausforderung für die Lehrer. Denn das Thema ist sehr komplex. Um nur ein paar Aspekte zu nennen: Es gilt Kenntnisse zu vermitteln über die NS-Ideologie, über den Kriegsverlauf, über Entscheidungswege im NS-System und über die Stufen der Verfolgung. Und auch wenn Schüler manchmal stöhnen, dass das Thema Schoa in verschiedenen Schuljahren und Schulfächern immer wieder an die Reihe kommt: Dies ist schon ein richtiger Ansatz, um der Komplexität gerecht zu werden.

So können im Religionsunterricht sowohl grundsätzliche Fragen wie „Warum lässt Gott Leid zu?“ besprochen werden als auch kirchenhistorische Fragen wie nach der Wirkung des Antijudaismus der Kirchen oder nach deren Versagen in der NS-Zeit selbst.

Im Deutsch-Unterricht können die Schüler anhand von altersgerechten Romanen sich selbst die Frage stellen: Wie hätte ich gehandelt? Sie können die Frage diskutieren, wie Ausgrenzung funktioniert oder was Antisemitismus ist. In der Schule gibt es allerdings das Problem, dass in der Regel zuerst im Deutschunterricht anhand von entsprechenden Lektüren über die Schoa gesprochen wird, und erst in einem späteren Schuljahr im Geschichtsunterricht die Fakten vermittelt werden. Der Zentralrat der Juden unterstützt daher die Forderung von Geschichtsdidaktikern, diese Reihenfolge umzudrehen.

Gedenken braucht Wissen

Doch abgesehen von dieser Diskussion bleibt festzuhalten: Die Befassung mit der Schoa in den unterschiedlichen Schulfächern führt zu Reflexionen, die unser heutiges Leben betreffen – vielleicht der wichtigste Schritt in der Gedenkkultur. Daher möchte ich an dieser Stelle das Leitmotiv der Gedenkstätte Buchenwald wiedergeben: „Gedenken braucht Wissen und gegenwartsrelevante Reflexion“.

Bei der Weitergabe der Erinnerung kommt den Schulen eine Schlüsselposition zu. Geht die Vermittlung in der Schulzeit schief, wenden sich die Menschen oft ab. Ebenso halte ich es für elementar, dass das Judentum nicht nur im Zeitraum 1933 bis 1945 wahrgenommen wird. Wenn wir zum Beispiel auf die jüdischen Stetl blicken, die es in Osteuropa einst gab, dann haben die Nazis eine ganze Welt endgültig vernichtet.

Auch in Deutschland wurde durch die Schoa eine jahrhundertealte Kultur jäh abgebrochen. Die Vielfalt der jüdischen Geschichte und Kultur, der Einfluss des Judentums auf die Entwicklung der abendländischen Kultur in Europa – das sind wichtige Kenntnisse, die die Schüler brauchen, um die Dimension dieses Völkermords zu verstehen. Das ist zugleich wichtig für das Verständnis des heutigen Judentums und für unser Zusammenleben.

Jüdisches Leben in Deutschland - mehr als die Schoa

Wenn Juden in der Schule nur als Opfer dargestellt werden, bekommen wir eine Schieflage in der Perspektive, mit der auch heute auf uns geschaut wird.

Hier gibt es in den Schulen großen Nachholbedarf. So sehr, dass der Zentralrat der Juden vor gut einem Jahr erstmals eine gemeinsame Erklärung mit der Kultusministerkonferenz verabschiedet hat. Darin geht es um eine bessere Vermittlung der jüdischen Kultur und Geschichte. Derzeit bereiten Fachleute auf beiden Seiten Materialien zu einer kommentierten Sammlung auf, um Lehrern damit Hilfestellung zu leisten für eine realistische und nicht klischeehafte Vermittlung des Judentums. Bei einer Fachkonferenz im April in Berlin sollen diese Materialien präsentiert werden.

Darüber hinaus setzt der Zentralrat auch auf direkte Begegnungen, um das Wissen über das Judentum zu vergrößern.Wir haben das Projekt „Likrat – Jugend und Dialog“ wiederbelebt. Dafür haben wir rund 40 jüdische Jugendliche ausgebildet, die jeweils zu zweit in Schulklassen gehen, um Fragen zum Judentum zu beantworten. Und zwar auf Augenhöhe, unter Gleichaltrigen. Auch hier in München bieten wir solche Begegnungen an.

Sie führen dazu, dass einerseits das Judentum nicht nur auf die Schoa reduziert wird, andererseits die besondere Verantwortung aus der Geschichte heraus ohne moralischen Zeigefinger thematisiert werden kann. Wie ich es eingangs schon erwähnte, gibt es in den Klassenzimmern immer mehr Schüler, die von ihrer Herkunft her überhaupt nichts mit der deutschen Geschichte zu tun haben. So passiert es nicht selten, dass ein Geschichtslehrer in das Thema Schoa einsteigt und sich durch die Fragen der Schüler unvermittelt beim Thema Nahostkonflikt wiederfindet.

Um ehrlich zu sein: In der Haut eines solchen Lehrers möchte ich nicht stecken. Völlig unvorbereitet die aktuelle Politik Israels erklären zu müssen – dazu muss man ad hoc erst einmal in der Lage sein!

Gedenken an die Schoa in einer Einwanderungsgesellschaft – wie kann das gelingen?

Kurz gesagt: Indem wir auf die unterschiedliche kulturelle Prägung der Menschen eingehen und sie dort abholen – etwa bei ihren Erfahrungen mit Ausgrenzung oder Verfolgung oder ihren eigenen nationalen Katastrophen und Narrativen. Zugleich aber, indem wir an bestimmten Stellen nicht wanken: Dazu gehören die Ablehnung von Antisemitismus und eine Relativierung des Holocaust durch falsche Vergleiche. Das darf nicht auf Toleranz stoßen!

Lehrer müssen antisemitischen Vorurteilen, die ihre Schüler transportieren, entschieden entgegentreten. Das ist nicht leicht bei Schülern, die sich ohnehin schon als Außenseiter der Gesellschaft fühlen und sich in einer Verweigerungshaltung befinden. Lehrer stehen hier vor einer gewaltigen Aufgabe, mit der wir sie nicht allein lassen dürfen.

KZ-Gedenkstättenbesuch für alle Schüler der Sekundarstufe

Ebenso findet es meine volle Unterstützung, dass in Bayern KZ-Gedenkstättenbesuche in den höheren Klassen der Gymnasien verpflichtend sind. In einem Modellprojekt ist dies auch auf Mittelschulen ausgeweitet worden und hat sich als Erfolg erwiesen. Ich denke, diese Besuche könnten für die älteren Schüler aller weiterführenden Schulen sinnvoll sein.

Die gemeinsame Erfahrung der Schüler kann ähnlich wie durch ein Gespräch mit Zeitzeugen integrierend wirken. Es dürften doch sehr ähnliche Gefühle sein, die ein evangelischer oder katholischer Schüler deutscher Abstammung und ein muslimischer Schüler türkischer Abstammung an einem solchen Ort haben. Ein solcher Besuch muss pädagogisch gut eingebettet sein. Das ist mir klar. Er braucht eine gute Vor- und Nachbereitung.

Ähnliche Wirkung hat sicherlich auch die Beschäftigung mit Einzelschicksalen, so wie jetzt mit den ermordeten Pädagogen. Hinter dem Namen und den Lebensdaten scheint dann plötzlich der Mensch auf. Und dass dieser Mensch aufgrund völliger staatlicher Willkür entrechtet, verfolgt und schließlich ermordet wurde – das berührt auch nach 70 Jahren noch.

Es ist daher eine sehr schöne Geste des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes, dass Sie diese Gedenkfeier für die in der NS-Zeit verfolgten und ermordeten Pädagogen ausrichten. Dafür danke ich Ihnen ganz herzlich!

Ich habe am Beginn meiner Rede dazu aufgefordert, sich vorzustellen, Lehrer mit Haustieren dürften nicht mehr unterrichten. Jeder wird sich gedacht haben: Was für eine absurde Idee!

Mut zum Aufstehen gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus

Und das ist genau der Punkt: Wenn jemand meint, festlegen zu dürfen, welche Menschen welche Rechte haben, dann müssen wir die Absurdität spüren und müssen aufstehen. Dann darf niemand schweigen und wegschauen. Das ist manchmal schwierig. Aber es geht. Daher möchte ich zum Schluss von einem Mädchen erzählen, dessen Handeln mich tief beeindruckt hat.

Es ist die 15-jährige Emilia aus Dresden. In ihrer Klasse war es unter den Mitschülern normal geworden, sich mit dem Hitlergruß zu begrüßen, oder bestimmte Codes der Neonazis und judenfeindliche Fotos im Klassenchat zu verbreiten. Emilia hatte den Mut, nicht mitzumachen. Sie zeigte einen ihrer Klassenkameraden sogar bei der Polizei an.

Liebe Schülerinnen und Schüler, nehmt Euch an diesem Mädchen aus Dresden ein Beispiel! Vor 70 Jahren hatten die jüdischen Lehrer und Schüler niemanden, der ihnen beistand. Heute kämpfen einige Menschen sehr alleine gegen Rechtsextremisten oder gegen den Rassismus in ihrer Umgebung.

Doch die Menschen, die eine bestimmte Religion heruntermachen, die gegen Ausländer hetzen oder sich über Schwule und Behinderte lustig machen – die dürfen nie wieder die Oberhand gewinnen. Das schulden wir in unserem Land, das schulden wir den nächsten Generationen. Und das schulden wir all jenen Menschen, die im Nationalsozialismus ermordet wurden.