Stellungnahme des BLLV zum Übertrittsverfahren

Stellungnahme des BLLV zur Änderung der Volksschulordnung, der Realschulordnung und der Gymnasialordnung wegen Änderung des Übertrittsverfahrens 2009 (in Auszügen)

I. Grundsätzliches

Aus unserer Sicht ist die Übertrittssituation an der Schnittstelle zwischen der 4. und 5. Klasse momentan vollkommen unbefriedigend. Grundsätzlich ist das bestehende System der Sortierung in vermeintlich begabungshomogene Lerngruppen lerntheoretisch höchst fragwürdig, da das Leistungsvermögen der Schüler und Schülerinnen wesentlich komplexer, vielfältiger und weniger stabil ausdifferenziert ist, als dass es die Gruppierung in wenige scheinbar homogene und stabile Leistungsgruppen ermöglicht.

Eine zuverlässige Diagnose als Grundlage einer solchen Aufteilung ist nicht möglich, zumal die zugrunde liegenden Kompetenzbeschreibungen und Diagnoseverfahren stark unterschiedlich und daher die Noten nicht valide vergleichbar sind und der Zeitpunkt einer solchen Differenzierung wesentlich zu früh liegt. Die Auswirkungen dieser Praxis bringen allerdings erhebliche Belastungen für alle Beteiligten mit sich.

Der Übertrittsdruck ist sowohl für Schüler/innen als auch für Eltern und Lehrer/innen außerordentlich belastend. Durch die sich verschärfende Konkurrenz und die steigende Bildungsaspiration der Eltern nimmt dieser Druck zudem drastisch zu. Dabei wird die Verantwortung für eine pädagogisch nicht zu rechtfertigende und aufgrund der ungenügenden Diagnosemöglichkeit nicht zu verantwortende Übertrittsentscheidung den Lehrkräften der Grundschule zugeschoben. Darunter leidet das Lernklima zumindest in der 3. und 4. Jahrgangsstufe.

Die soziale Ungerechtigkeit dieses Lebenschancen verteilenden Verfahrens ist durch zahlreiche Untersuchungen bestätigt. Die Übertrittsentscheidungen sind weniger vom tatsächlichen Leitungsvermögen der Schüler/innen als vom sozialen Status des Elternhauses abhängig. Dies liegt nicht allein an der immer stärker zunehmenden Praxis kurzfristiger intensiver Nachhilfe, die für die Eltern erhebliche finanzielle Belastungen mit sich bringen. Außerdem werden die Zuweisungen von den Eltern unterlaufen, etwa durch die z.T. sehr unterschiedlichen Übertrittsvoraussetzungen in den weiterführenden Schulen.

Wie unbefriedigend die momentane Situation auch von der Politik empfunden wird, lässt sich daran ablesen, dass die Bedingungen des Übertritts ständig verändert werden, ohne dass das grundsätzliche Problem behoben wird.

Aus diesen Gründen spricht sich der BLLV für eine Schule aus, die die wachsende Heterogenität der Schüler akzeptiert. Eine solche Schule verzichtet auf eine Aufteilung der Schüler/innen in stabile Lerngruppen oder gar unterschiedliche Schularten und vermeidet damit die nicht lösbaren Probleme der Fehlzuweisungen und der mangelnden Durchlässigkeit. Sie wird der Unterschiedlichkeit der Schüler durch Individualisierung, Binnendifferenzierung, modularisierte Angebote und selbstgesteuertes Lernen gerecht.

II. Anmerkungen zur Verordnung zur Änderung der Volksschulordnung, der Realschulordnung und der Gymnasialschulordnung

... Der Gesetzgeber und der Verord­nungsgeber ermöglichten bislang den Lehrerinnen und Lehrern eine größt­mögliche pädagogische Freiheit. Diese brachte mit sich, dass die Lehrkraft ihre Probearbeiten selbst setzen konnte, wann sie es aufgrund des Un­terrichts und des Leistungsstandes der Schülerinnen und Schüler für richtig hielt.

Zusätzlich konnte die Lehrkraft selbst festlegen, wie die Leistungs­nachweise zu bewerten sind. Die Gestaltung und die Anzahl von Probe­arbeiten, Zeitdauer, Schwierigkeitsgrad sowie die Notengebung sind wesentli­che Bestandteile der pädagogischen Verantwortung einer Lehrkraft, die in § 59 Abs. 1 Satz 1 Bayerisches Erzie­hungs- und Unterrichtsgesetz (BayEUG) und § 2 Abs. 1 Satz 1 Leh­rerdienstordnung (LDO) geregelt ist.

Die neuen Übertrittsregelungen lassen sich mit der Intention der pädagogischen Verantwortung und dem damit gewollten pädagogischen Ermessen von Lehrkräften nach unserer Auffassung nicht in Einklang bringen. Die geplanten Festlegungen widersprechen damit dem Sinn von § 59 Abs. 1 Satz 1 BayEUG und § 2 Abs. 1 LDO. Dass diese Aufhebung der Deregulierung dienen soll, ist nicht nachvollziehbar.

Eine Festlegung auf „mindestens vier Unterrichtswochen“ ohne Probearbeiten schränkt die pädagogische Freiheit der Lehrkräfte ein und erhöht den Druck auf die Schülerinnen und Schüler auf festgelegte Probewochen. Die Ankündigung von Probearbeiten erhöht den Druck auf jedes einzelne Kind. Es ist zu befürchten, dass Kinder gezielt auf diese Tage vorbereitet werden und nur noch für die Probe lernen. Dies steht dem Ziel nachhaltigen Lernens entgegen. Die bisherige Regelung hatte aus guten pädagogischen Gründen auf das Gegenteil abgezielt.

Der Richtwert wird von den Eltern als fester Maßstab gesehen werden. Eine Abweichung in „begründeten Fällen“ wird unmöglich sein. Die Anzahl der Probearbeiten ist so gewählt worden, dass in allen Wochen jeweils eine Probearbeit geschrieben werden muss. Dazu kommen noch die Probearbeiten in Musik, Religion, praktischen Prüfungen in Sport, WTG und Kunst und die mündlichen Noten. Damit bleiben zwar vier probefreie Wochen, aber viele Wochen mit mehr als zwei bzw. drei Notenfeststellungen.

Die Gelenkklassen werden zu Durchgangsstationen, die pädagogisches Arbeiten verhindern. Gerade in den Hauptschulen sind die 5. Klassen von der sozialen und psychischen Konstitution so schwierig, dass viel Zeit und pädagogisches Geschick nötig ist, um die Kinder wieder lernbereit zu machen. Wenn in dieser Phase wieder nur das Weiterkommen im Vordergrund steht, ist das Profil der jeweiligen Schulart gefährdet und eine effektive pädagogische Arbeit nicht mehr möglich.

Zudem müssten den Schulen, um die Ziele „Individuelle Förderung in der 4. Jahrgangsstufe“ und „verstärkte individuelle Förderung“ in den Gelenkklassen erreichen zu können, zusätzliche Stunden zugeteilt werden. Im KMS zur Klassenbildung für die Grund- und Hauptschulen ist hierzu allerdings nichts vorgesehen.

III. Alternative zum geplanten Übertrittsverfahren

Der BLLV fordert, wie unter Punkt I. begründet wird, eine längere gemeinsame Schulzeit. Solange diese noch nicht verwirklicht ist, schlägt er aus pragmatischen Gründen folgende Regelung für das Übertrittsverfahren vor:

1. Die Übertrittsentscheidung liegt nach eingehender Beratung in der Verantwortung der Eltern.

2. Grundlage für die Übertrittsentscheidung ist eine Empfehlung der abgebenden Schule. Diese wird in einem Beratungsgespräch vermittelt und basiert auf den Leistungsmessungen und der Diagnose der Lernkompetenzen. In die Entscheidung der Eltern müssen auch die aufnehmenden Schulen einbezogen werden.

3. Um die Qualität der Beratungsangebote zu sichern, muss die Diagnosekompetenz der Lehrkräfte aller beteiligten Schularten weiter gestärkt werden. Auch die Kooperation zwischen abgebenden und aufnehmenden Schulen und die gegenseitige Kenntnis übereinander bedürfen einer erheblichen Vertiefung. Die Kompetenz der qualifizierten Beratungslehrkräfte sollte unter angemessener Anrechnung des Aufwandes für die Übertrittsberatung genutzt werden.

Begründung

Eine solche Regelung reduziert den Druck auf die Grundschule erheblich. Die momentan unbefriedende Kommunikation zwischen abgebender und aufnehmender Schule wird verbessert und intensiviert. Die Übertrittsempfehlung wird, da sie nicht mehr justiziabel sein müsste, auf eine breitere Grundlage als auf nicht valide Notengrenzen stellen.

Die Erfahrungen aus Bundesländern mit Freigabe der Übertrittsentscheidung zeigen, dass diese Entscheidung nicht dauerhaft zu einem signifikant veränderten Übertrittsverhalten geführt hat. Auch in dem momentan stark reglementierten System gibt es zahlreiche Möglichkeiten für Eltern, die Übertrittsentscheidung der Grundschule und die Ergebnisse des Probeunterrichts zu unterlaufen. Diese Möglichkeiten sind jedoch in der Regel mit erheblichen Problemen und Belastungen für die Kinder verbunden.

Auch durch rigide Übertrittsregelungen werden Schülerströme bestenfalls verzögert, aber nicht auf Dauer aufgehalten. Die Bildungserwartung der Eltern bricht sich in jedem System Bahn. Obrigkeitsstaatliche Barrieren schaffen nur Konflikte, unter denen Schüler, Eltern und Lehrer leiden.