Lernen und Leisten trennen

Beurteilungen sind nie objektiv. In ein Urteil spielen zahlreiche psycho-soziale Störfaktoren mit hinein: persönliche Vorlieben genauso wie der Vergleich mit den Klassenkameraden, die konkrete Prüfungssituation oder das soziale Umfeld des Prüflings. Ein Zeichen von Professionalität ist, sich dessen bewusst zu sein. Noch professioneller ist es, das Lernen vom Leisten zu trennen.

Leistung aus psychologisch-pädagogischer Sicht: Prof. Dr. Michaela Gläser-Zikuda

Im Kindergarten herrsche noch allgemeine Vorfreude auf die Schule, sagte Prof. Dr. Gläser-Zikuda, die den Begriff Leistung aus psychologisch-pädagogischer Sicht untersuchte. Diese Vorfreude sinke aber bereits währen der ersten zwei Grundschulklassen rapide, da das Kind plötzlich permanent mit anderen verglichen und bewertet werde. Im Kindergarten habe es dagegen vorwiegend Wertschätzung der eigenen Persönlichkeit erfahren. "Das ist fatal", so die Schulpädagogin, "denn Emotionen, Freude oder Wohlbefinden, sind wichtige Antriebsmotoren für Entwicklungsprozesse." 

Kompetenzorientierter Unterricht: Dass diesem Entwicklungsprozess inzwischen größere Aufmerksamkeit geschenkt wird, ist auch ein Verdienst des kompetenzorientierten Unterrichts. Gläser-Zikuda sprach von einem Paradigmenwechsel von der Leistungs- zur Kompetenzorientierung in der Schule. "Kompetenzen sind vielschichtig", sagte sie, "sie sind emotional, kognitiv oder sozial. Und Kompetenzen sind teilweise schon vorhanden: In Elternhaus und im sozialen Umfeld erlernt, werden sie im schulischen Rahmen weiterentwickelt."

Der Bildungswissenschaftler Franz E. Weinert (2001) beschreibt Kompetenzen als" kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können".

Neues Verständnis schulischer Diagnostik: Dieses Verständnis fordere aber auch ein neues Verständnis von schulischer Diagnostik. Kompetenzorientierter Unterricht beurteile die Kompetenz, die ein/e Schüler/in in einer konkreten Lerngruppe, einer konkreten Situation an einem konkreten Inhalt lernen, anwenden und vertiefen solle.

Neue Feedback-Kultur: Feedback sei dabei enorm wichtig. Feedback heiße nicht permanentes Lob, sondern: Feed up: Wohin soll es gehen, was ist das langfristige Ziel? Feed back: Wo steht der Schüler im Augenblick? Feed forward: Welche nächsten Schritte stehen an. Anders gesagt: Eine Leistungsbewertung darf nicht nur festgestellt werden, sie muss auch in einen für den Schüler verständlichen Entwicklungsprozess eingebettet sein.

 

Die Deutschen haben eine merkwürdige Fehlerkultur. Fehler werden sehr negativ bewertet. Dabei sind sie doch eine Chance, sie geben dem Lehrer eine wichtige Rückmeldung. 

 

Beobachten statt Bewerten: Umsetzen lasse sich dies in einer entkoppelten Lern- und Leistungsphase. Erst werden Kompetenzen, die schon vorhanden sind, gesammelt, dann in einem adaptiven, individuellen Unterricht erweitert. Wichtig: in dieser Phase findet keine Bewertung statt. Vielmehr erhalten die Schüler Zeit, sich mit dem Stoff ausgiebig zu beschäftigen, auch Zeit, Fehler zu machen und selbstständig aus ihnen zu lernen. Erst dann werden die erworbenen Kompetenzen in einer gut vorbereiteten und für die Schüler transparent gemachten Leistungsphase werden diese Kompetenzen getestet. Tests finden, wenn überhaupt, nur in diesem Abschnitt statt. 

Bildungsempiriker sprechen von der Kopplung einer formativen, kompetenzorientierten Leistungsmessung als Lerndiagnose und Rückmeldung, die sowohl Schülern als auch Lehrer dient, weil sie sowohl das individuelle Lernens und als auch die Unterrichtqualität verbessert, und einer summativen, leistungsorientierten Leistungsmessung als abschließender Feststellung eines Lernstandes.

Ein Vorteil: Eltern lassen sich so leichter miteinbeziehen. Gemeinsam können Bildungsziele formuliert, die  Qualität des häuslichen Lernens erhöht, das Elternteil als Motivationspartner gewonnen werden. Gleichzeitig fühlen sich die Eltern der Schulfamilie eher zugehörig.

Das Flexible Lehrerbildungsmodell bietet hierfür den geeigneten Rahmen.

Dazu muss sich aber auch die Lehrerbildung ändern. Gläser-Zikuda formulierte in Anlehnung an das BLLV-Modell der flexiblen Lehrerbildung folgende Forderungen:

  • Stärkere Abstimmung zwischen Ausbildungsphasen Studium und Referendariat

  • Stärkere Gewichtung der Bildungswissenschaften im Studium

  • Perspektivenwechsel vom Lernenden zu Lehrenden – angehende Lehrer sollen ebenfalls nach neuen Gesichtspunkten unterrichtet werden