Lernen und Leistung nach Corona

Beschluss der 55. Landesdelegiertenversammlung des BLLV vom 18.-20. Mai 2023

Die Veränderungen der Gesellschaft – die wir nicht erst seit Corona sehen – und damit auch unserer Lebensweisen werfen viele Fragen auf: Was bedeuten diese Veränderungen für unsere Schulen, für uns Lehrerinnen und Lehrer aber auch für die Familien und Eltern? Was erwartet der Arbeitsmarkt von den jungen Menschen? Ist das, was Kinder und Jugendliche in der Schule lernen, noch zeitgemäß? Entspricht unser Unterrichten den Prinzipien modernen Lernens, wie sie die neuen Forschungsergebnisse der Psychologie und der Hirnforschung definieren? Wie sichern wir, dass der Bedeutung einer stabilen sozialen Gruppe für effizientes Lernen in der Schule Rechnung getragen wird? Welche Rolle spielen Gefühle wie Freude, Lust und Motivation für erfolgreiches, nachhaltiges Lernen? Und wie können wir sie in der Schule verstärken?

Der BLLV wird seine Vision eines ganzheitlichen, auf Individualität und Selbstkompetenz basierenden, modernen Leistungsbegriffs zielstrebig verfolgen und dafür sorgen, dass diese nachhaltig gelebt wird! Denn: Das Fenster, in Alternativen zu denken, steht sperrangelweit offen. Nicht zuletzt durch Corona, aber auch.

Aufgrund von Corona mussten die Schulen spontan schließen, worauf niemand vorbereitet war. Und es zeigt sich: Es geht auch anders. Die Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler sowie die Eltern sind enorm anpassungsfähig und kreativ. Aber diese Situation ist auch sehr belastend für alle Beteiligten. Vieles, was vorher als unmöglich oder unveränderbar galt, relativierte sich plötzlich: Übertrittszeugnisse, Lernen von Zuhause, Nutzung von ‚verbotener‘ Software, Streichung von Lehrplaninhalten (sogar ganzer Fächer!).

Man hat vor dem Hintergrund von Kompetenzen gesehen, dass Lernen grundsätzlich auch selbstorganisiert möglich ist und dass dies sehr voraussetzungsreich ist. Es benötigt dazu entsprechende Persönlichkeitskompetenzen (Resilienz, Eigenverantwortlichkeit, Motivation, Disziplin, Selbstkompetenz, Methodenkompetenz, …). Diesem zentralen Aspekten des Lernens wurde bislang schulpolitisch viel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet, obwohl ein großer Teil des schulischen Lernens auch zuvor bereits Zuhause stattfand.

Leistungsmessungen, -bewertungen und -vergleiche in Form von Prüfungen und Noten sind (anders als es früher immer dargestellt wurde) zumindest in manchen Bereichen für die Gesellschaft ohne weiteres verzichtbar. Von zahlreichen gesellschaftlichen Akteuren auf allen Ebenen wurde sogar ein genereller Verzicht auf Prüfungen und Notengebungen gefordert.

Insbesondere Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien leiden unter der Situation, was einmal mehr vor Augen führt, wie gravierend sich die soziale Ungleichheit im Bildungssystem zeigt. Dabei hat auch PISA in der Vergangenheit immer wieder darauf hingewiesen, leider ohne Konsequenzen.

In der aktuellen Situation zeigt sich ganz klar, dass in den Schulen sowohl die Lehrkräfte als auch die Schülerinnen und Schüler unzureichend digital gerüstet sind (Software, Hardware, Infrastruktur und Medienkompetenz). Wir sehen eindrücklich, dass vieles im Argen liegt und nun wurden Fenster geöffnet, die offengehalten werden müssen, damit die erzielten Errungenschaften nicht wieder verloren gehen.

Es braucht dringend ein Umdenken und grundlegende Veränderungen im Bildungssystem in den Bereichen Persönlichkeits- und Sozialkompetenzentwicklung, Noten und Prüfungskultur, soziale Selektion und Benachteiligung und schließlich der Digitalisierung. Weniger eng getakteter Leistungswettbewerb im Gleichschritt und mehr Zeit für individuelle und kompetenzorientierte Förderung durch passendes Feedback würden, wie man auf der ganzen Welt beobachten kann, die Bildungsungerechtigkeit effektiv reduzieren.

Der gesetzliche Auftrag an das Bildungswesen ist es, Kinder und Jugendliche ganzheitlich in ihrer Entwicklung zu fördern und sie zu aufgeklärten demokratischen Persönlichkeiten heranwachsen zu lassen. Der Fokus des gegenwärtigen Bildungswesens liegt jedoch eindeutig auf der Vermittlung und Messung fachlichen Wissens. Eine hohe Anzahl an Fächern in Verbindung mit einer Vielzahl von Leistungsmessungen und -bewertungen nehmen den Raum für ganzheitliche Bildungsansätze, weil für die Kinder und Jugendlichen aufgrund des ständigen Leistungsdrucks keine Zeit bleibt für eine offene und angstfreie Auseinandersetzung mit sich selbst, anderen Schülerinnen und Schülern und der Umwelt. Um die übergeordneten ganzheitlichen Bildungsziele tatsächlich verwirklichen zu können, braucht es eine andere Leistungskultur an Schulen und zwar auf der Basis individueller kompetenzorientierter Förderung durch Feedback.

Der BLLV setzt sich dafür ein, die durch die Krise entstandenen Fenster offen zu halten, damit die erzielten Errungenschaften und Erkenntnisse nicht wieder verloren gehen!

Der BLLV fordert deshalb:

  1. An Dinge, die wir jetzt schätzen gelernt haben, anzuknüpfen.
  2. Freiheit und Flexibilität zuzulassen anstatt zurückzukehren zu alten und überholten Traditionen.
  3. Den ganzheitlichen Bildungsbegriff, die übergeordneten Bildungsziele mehr in den Fokus zu rücken.
  4. Das Thema Noten im bestehenden System kritisch zu hinterfragen.
  5. Die Benotung schrittweise aus dem Curriculum herauszuholen, Fächer mit und ohne Notengebung zu etablieren – ohne dabei eine Wertigkeit des Faches vorzunehmen!
  6. Unsere Gesellschaft als ein soziales Gefüge anzuerkennen, das nur gemeinsam funktioniert. Leistung als kooperatives, kreatives und auf ein gemeinsames Ziel gerichtetes Tun anzuerkennen.
  7. Deshalb gilt es, die Gesellschaft mit ihren Ideen und Anforderungen an individueller Leistung zu berücksichtigen und die schulischen Bedingungen dann entsprechend zu modifizieren.
  8. Der BLLV fordert in seinen politischen Diskussionen, dass die Verantwortlichen ihren Blick schärfen für die Tatsache, dass es verschiedene, äußerst wertvolle Leistungsinhalte gibt, die einer ganzheitlichen Bildung entsprechen. Hier gilt es weg zu kommen von der reinen „Kernfachlogik“ hin zu der dringenden Erkenntnis, dass ganz andere Fähigkeiten und Kompetenzen für unsere Gesellschaft wichtig sind! Die Ausweitung des Leistungsbegriffs muss dringend vorangetrieben werden.