Fabian, ein recht verspielter, mittelguter Schüler der 4. Klasse, bittet seine Mutter mit Tränen in den Augen: "Mami, kann ich morgen daheim bleiben? Mir ist so übel." Die Mutter weiß, dass morgen die entscheidende Probearbeit im Fach Heimat- und Sachunterricht dran ist und Fabian zwischen 2 und 3 steht. Verhaut er, wird es nichts mehr mit dem Übertritt. Schon bei einer 3 würde auch im Übertrittszeugnis eine 3 stehen, der Gesamtnotendurchschnitt von 2,33 für den Königsweg Gymnasium wäre verbaut.
Die Mutter weiß aber auch: Fabian hat sich bereits zweimal in der Schule erbrochen. Wie soll ein 10-Jähriger einen solchen Druck aushalten? Fabian ist der fiktive Protagonist einer allzu realen Tragikomödie mit dem Titel "Übertrittswahn in Bayern", er könnte auch Max heißen, oder Lisa oder Anna, denn es gibt genügend Kinder, denen es genauso ergeht. Das Stück ist, pädagogisch betrachtet, makaber - und hat ernste Folgen für alle Beteiligten. Mental und auch rein physisch.
Wenn die Fabiane mit sechs Jahren in die Schule kommen, freuen sie sich riesig. Sind motiviert, wissbegierig. Da ist ja auch der beste Freund, und die Lehrerin ist "total nett". Es gibt nichts Schöneres, als die ersten Buchstaben zu lernen und mit den Zahlen bis 10 zu jonglieren. Doch bei wie vielen schafft es unser Schulsystem, spätestens ab der 3. Grundschulklasse, Freude und Motivation in Angst und Druck zu verwandeln?
Die Eltern sagen angesichts der unerbittlich nahenden Übertrittsentscheidung: "Jetzt wird es ernst, jetzt geht es ums Ganze!" Einzelnoten sind unanfechtbar - eigentlich. Nicht mehr der individuelle Lernprozess steht dann im Vordergrund, sondern die Ziffernnoten, die alle Kinder zeitgleich bei schriftlichen Leistungsnachweisen erbringen müssen. Ob ein Kind für den Lernprozess etwas länger braucht, einen schlechten Tag hat oder Probleme daheim, spielt keine Rolle. Der Leistungsdruck erdrückt manche Kinder, aber auch die Eltern bringt er an die Grenzen. Sie wollen ja nur das Beste für ihr Kind. Manche Erziehungsberechtigte attackieren Lehrkräfte nicht nur verbal. Die Nerven liegen blank, schuld ist dann nur dieser verdammte Pauker!
Eltern setzen Anwälte ein
Nicht selten lassen Eltern Anwälte um bessere Noten kämpfen. Da wird um einzelne Punkte mit der Lehrkraft ausführlich diskutiert, da wird überprüft, ob die Fragen kindgerecht formuliert wurden. Ist die Probearbeit überhaupt rechtzeitig und fristgerecht angekündigt worden? Wurden mehr als zwei Probearbeiten in einer Woche geschrieben? Hat sich die Lehrkraft an die vorgeschriebenen „Richtzahlen“ gehalten? Wurde die vorgeschriebene Probephase eingehalten oder wurde gar in einer probefreien Phase eine schriftliche Leistungserhebung eingefordert? Hat die Lehrerin oder der Lehrer wirklich den Stoff aus dem unmittelbaren Unterrichtsgeschehen abgefragt? Ist eine Portfolioarbeit tatsächlich einer „üblichen“ Probearbeit von der Wertigkeit her gleichzusetzen?
Rechtliche Schritte nur bei Verwaltungsakt
Lehrkräfte sollten wissen, dass Eltern eine schulische Entscheidung nur dann juristisch anfechten können, wenn sie ein Verwaltungsakt ist, wenn also in das Grundverhältnis eingegriffen wird. Damit sind Probearbeiten, Schulaufgaben und Einzelnoten formal nicht anfechtbar. Jedoch greifen auch hier Erziehungsberechtigte mit diversen, mehr oder weniger subtilen Methoden ein. In Elterngesprächen fallen offene Drohungen („Sie werden schon sehen, wenn Sie nicht …“), es werden zum Teil durch Rechtsanwälte formulierte formlose Rechtsbehelfe an die vorgesetzten Schulbehörden bis hin zum Kultusministerium eingelegt, Dienstaufsichtsbeschwerden formuliert oder Briefe an den Schulleiter geschickt, mit massiver Kritik an der Lehrkraft.
Die Folge ist in der Regel, dass die Behörde oder der Schulleiter eine Stellungnahme der Lehrkraft einfordert, den Eltern dann Rückmeldung gibt. Die Lehrkraft als Schrankenwärter Die Eltern haben in der Wahrnehmung berechtigter Interessen sehr feine Antennen dafür, was in unserem Schulsystem schief läuft. Die Begabungsgerechtigkeit kann es in einer Schule, in der es um Berechtigungen und Selektion und damit um den Wahn der guten Noten geht, nicht geben. Natürlich ist Begabung eine wichtige Voraussetzung, ob Schülerinnen und Schüler das Gelernte abrufen können und dies hängt auch ab von Tagesform, Konzentrationsfähigkeit und der Fähigkeit, mit Prüfungssituationen umzugehen.
Druck und Angst beschränken die Leistungsentfaltung entscheidend. Den verpassten Übertritt sehen viele Eltern als Katastrophe. Selbstverständlich spüren viele Kinder die Sorgen der Eltern, sie wollen ihnen den Gefallen tun, in der Schule gut zu sein und scheitern genau daran. Einem Fabian wird dann schon mal schlecht beim Gedanken, dass er seine Eltern enttäuschen könnte. Das ist keine Einbildung. Lehrkräfte dienen als Prellbock. Sie werden für ein System verantwortlich gemacht und stehen ebenfalls massiv unter Druck. Sie müssen ein Übertrittsverfahren formalistisch durchführen, das möglichst keine Ansatzpunkte für eine Anfechtung liefert. Sie verleugnen pädagogische Prinzipien und werden zu Defizitfahndern statt zu Schatzsuchern.
Alles dreht sich um die drei Fächer Deutsch, Mathematik und Heimat- und Sachunterricht, berechnet wird auf Hundertstel, bis 2,33 geht die Schranke vor dem Weg aufs Gymnasium auf, bis 2,66 geht sie für die Realschule auf. Alles hängt an der Punkteverteilung. Privatschule und Nachhilfe sollen das Grundschulabitur sichern, wer wollte es den gut betuchten Eltern verdenken. Den Rechtsanwalt können sich auch nur sie leisten. Anders gesagt: Die Schullaufbahn wird maßgeblich beeinflusst vom Geld. Kinder aus sozial schwachen und bildungsfernen Schichten laufen häufiger gegen die Schranke.
Übertrittsverfahren verfassungswidrig
Diese Eltern können sich auf ein Rechtsgutachten von Wolfram Cremer berufen. Der Wissenschaftliche Direktor des Instituts für Bildungsrecht und Bildungsforschung hat festgestellt, dass das Übertrittsverfahren in Bayern gegen die in der Verfassung verbrieften Grundrechte der Eltern verstößt. Aus seiner Sicht liegt die Entscheidung über den Bildungsweg eindeutig bei den Erziehungsberechtigten. Lehrkräfte und Eltern müssten ein gemeinsames Ziel haben: Das Kind begabungsgerecht der Schule zuzuführen, die diesem Kind die besten Entfaltungsmöglichkeiten bietet.
Durch die systemischen Bedingungen jedoch rudern Eltern und Lehrer manchmal in unterschiedliche Richtungen. Niemand zweifelt, dass auch Lehrkräfte unter diesem Druck leiden, dass auch sie Angst haben, den Wahnsinnsanforderungen dieses Übertrittsverfahrens gerecht zu werden. Manche scheitern an diesem Druck und der damit verbundenen mangelnden Wertschätzung und den teilweise entwürdigenden Umständen. Sie lassen sich in andere Jahrgangsstufen versetzen oder fallen schlimmstenfalls in ein Burn-out. Jeder Pädagoge weiß, dass die Entwicklung eines Kindes nicht gerade verläuft.
Lernen ist ein interaktiver Prozess, er erfordert Umwege ebenso wie individuelle Förderung und altersgerechte Reflexion. Ein System, das voll auf Leistungsmessung und Selektion abhebt, erzeugt notwendig Angst, Stress, Streit um Punkte und Noten, blindes und bulimisches Lernen. Und die Fabiane finden es schon bald zum Kotzen.