Professionalität in der Sonderpädagogik - Kommentar Themen

Der "Run" auf die Sonderpädagog/innen

Seit Sonderpädagog/innen als mobile Kräfe auch an allgemeinen Schulen eingesetzt werden, geht den Förderzentren das Personal aus. Lösen lässt sich das Dilemma nur mit einer stärkeren Vernetzung aller Schularten. Ein Gedankenspiel von Thomas Beschorner*.

Gedankenspiel: Stellen Sie sich vor, Sie sind Lehrer/in an einer Grundschule. Sie unterrichten 24 Kinder. Neben Maximilian mit Autismus-Spektrum-Störung kommen Lena, Kevin, Abdullah und Walther während des Schuljahres hinzu, die sehr verhaltensauffällig sind. Außerdem trägt sich Ihre Schulleiter/in mit dem Gedanken, das Schulprofil "Inklusion" auszubauen. Sie möchten unbedingt diesen Anforderungen gerecht werden und fordern u.a. über die Schulleitung fachliche Hilfe beim zuständigen Mobilen Sonderpädagogischen Dienst (MSD) an.

Nach einigen Wochen meldet sich eine junge Lehrkraft vom nahen Sonderpädagogischen Förderzentrum (SFZ). Sie stellt sich Ihnen als die neue MSD-Lehrkraft vor, die das Studium der Sonderpädagogik vor kurzem mit dem ersten Staatsexamen abgeschlossen habe, jedoch die Zeit bis zum Referendariat im SFZ aushelfe. Ihre sonderpädagogische Kompetenz habe sie in den letzten fünf Monaten am SFZ durch Klassenführung erworben.

Nach einiger Zeit stellen Sie gemeinsam mit den „sonderpädagogischen Fachkräften“ fest, dass das SFZ der bessere Förderort für Kevin sei. Nachdem die Eltern einer Umschulung zugestimmt haben, stellen Sie das Kind der zukünftigen Klassenlehrerin im SFZ in einer Diagnose- und Förderklasse vor. Die Klassenleiterin ist eine Gymnasiallehrerin, die in ihrem ursprünglichen Lehramt keine Anstellung gefunden hat. Nur ein Gedankenspiel? - Bittere Realität!

"Der Bayerische Weg"
Bildungspolitischer Konsens in Bayern ist der sogenannte „Bayerische Weg“: Inklusion muss Aufgabe aller Schulen und Schularten sein. Dabei bieten auch die Förderschulen ein qualitativ hochwertiges schulisches Angebot an. „Dass die Förderschulen, die in anderen Bundesländern mehr oder weniger abgewickelt wurden, hier weiter als alternatives schulisches Angebot zur Verfügung stehen und sich weiter entwickeln können, hat ihnen (…) das Stigma der „Aussonderung“ genommen“, resümieren Baier/Lengenfelder in einem Beitrag der Fachzeitschrift "Sonderpädagogik in Bayern".

Dies setzt an allen Schularten voraus, dass sowohl im inklusiven Setting als auch an den Förderschulen ein hochmotiviertes, fachlich qualifiziertes Personal zur Verfügung steht. Ohne den Einsatz von Lehrkräften anderer Lehrämter und von Studienabsolventen im Fach Sonderpädagogik mit erstem Staatsexamen wäre ein geregelter Schulbetrieb im inklusiven Setting derzeit kaum möglich.

Fachkräftemangel, fehlende Reserven und Quereinsteiger
Die erfahrenen Sonderpädagog/innen tragen neben ihren eigentlichen Aufgaben die Qualifizierung der neu hinzu gekommenen, fachfremd ausgebildeten Lehrkräfte mit. Diese Kolleg/innen sind aber sowieso schon hoch belastet, da keinen ausreichend qualifizierten Ersatz gibt, um die Ausfälle durch Beschäftigungsverbote, Mutterschutz und Elternzeit, längere Krankheit und Dienstunfähigkeit zu kompensieren. Ressourcen für Mobile Reserven werden zwar zur Verfügung gestellt. Es fehlen aber die Lehrkräfte, die diese Stellen bekleiden könnten.

Wurde vor einigen Jahren noch kritisiert, dass Sonderpädagog/innen in einem anderen als dem von ihnen vertieft studierten Förderschwerpunkt eingesetzt werden, ist man aktuell froh, dass überhaupt grundständig ausgebildete Pädagog/innen, egal mit welchem Förderschwerpunkt, zur Verfügung stehen.

Dilemma für Schulleitungen
Hier tut sich ein Dilemma für die Schulleitungen vieler Förderzentren und Sonderpädagogischer Förderzentren auf: Einerseits sollen den kooperierenden Grund- und Mittelschulen erfahrene Fachkräfte zur Seite gestellt werden - zum Beispiel als Mobile Sonderpädagogische Hilfen, kurz MSD, als Inklusionslehrkräfte in Tandemklassen und an Schulen mit Schulprofil Inklusion, sowie in Inklusionsberatungsstellen.

Andererseits will die Schulleitung ihr eigenes Zentrum ebenfalls mit qualifiziertem Personal versorgt wissen, um die hohe sonderpädagogische Professionalität im eigenen Haus zu wahren und auch weiter entwickeln zu können.

Keine Frage: Inklusion braucht Professionalität, egal an welcher Schule und in welcher Schulart! Bei aller Kritik ist unbedingt anzuerkennen, dass alle - von den einzelnen Lehrkräften, über Schulleitungen, über Schulämter bis hin zu den zuständigen Sachgebieten an den Regierungen und den sonderpädagogischen Lehrstühlen der bayerischen Universitäten - gemeinsam Lösungen erarbeiten.

Regionale Lösungen als Impulsgeber
Ziel muss sein, kurz- und mittelfristig der Notstand des Lehrermangels zu lindern, dessen negative Auswirkungen zu minimieren und pädagogisch sinnvolle Lösungen für Kinder und Jugendliche zu finden. Dies führt zu regional interessanten Lösungen, die als Impulsgeber dienen könnten.

 

 

Was ist zu tun?

a) Ausbildung

  • Die Sicherung der Qualität sonderpädagogischer Arbeit und Professionalität ist nur durch eine universitär begründete Lehrerbildung möglich.

  • „Notmaßnahmen“ sollten Maßnahmen in größter Lehrermangelnot bleiben und ersetzen in keinem Fall die zweiphasig angelegte, grundständige sonderpädagogische Ausbildung.

  • Die Lehramtsstudiengänge in Bayern sind „neu zu denken“. Konzepte und Visionen zur Weiterentwicklung der Lehrerbildung im Hinblick auf inklusive Förderung sind zu entwickeln. Basis können entsprechende Konzepte des BLLV und der pädagogischen Fachverbände sein.

  • Es sind Möglichkeiten zur sonderpädagogischen Qualifizierung für andere Lehramtsstudiengänge in Zeiten inklusiven Arbeitens zu schaffen bzw. zu erweitern. Sonderpädagogische Inhalte müssen in allen Lehramtsstudiengängen verankert werden.

  • Wir brauchen (berufsbegleitende) akademische Nachqualifizierungsprogramme statt kurzfristiger Notmaßnahmen.

b) Versorgung

  • Nicht zielführend ist eine polarisierende und stark emotional geführte Diskussion um Ressourcen in den verschiedenen Systemen und um den Erhalt des Förderschulsystems.

  • Die ausreichende Versorgung mit entsprechend qualifiziertem sonderpädagogischem Personal, und je nach Bedarf auch mit Unterstützungsmaßnahmen durch sozialpädagogisches, therapeutisches und medizinisches Personal ist an allen Förderorten, d.h. sowohl an der Allgemeinen Schule als auch an SFZ, FZ, Förderberufsschulen und Schulen für Kranke sicherzustellen.

c) Arbeit im inklusiven Setting

  • Die kollegiale (Zusammen-)Arbeit in multiprofessionellen Teams ist im sonderpädagogischen Arbeitsfeld Usus und muss auch im inklusiven Setting eine Selbstverständlichkeit werden.

  • - Lehrkräfte brauchen den Austausch und eine professionelle Begleitung. Deshalb sind Ressourcen für regelmäßige Fortbildungen und für die Möglichkeit des schulhausinternen und schulartübergreifenden fachlichen Austauschs schnellstens zur Verfügung zu stellen mit entsprechender Anrechnung auf die Arbeitszeit der Lehrkräfte.

  • Um den individuellen Förderbedarfen der Kinder und Jugendlichen gerecht zu werden und um auch Lehrkräfte zu entlasten sind:

    > personelle Ressourcen für Sozialarbeit an allen Schulen zu schaffen;
    > der Einsatz von medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Fachkräften wesentlich zu erweitern;
    > ein Mindestmaß an Qualifikation für individuelle Schulassistenz einzuführen;
    > regionale Konzepte und Lösungen der Schulverwaltungen zu unterstützen.

*Zum Autor

Der Autor ist Leiter der Fachgruppe Förderschulen. Über die Entstehung dieses Beitrags sagt er:

"Die Komplexität des Themas und der Facettenreichtum lassen sich nicht nur mit dem Problem des aktuellen Lehrermangels beschreiben oder standespolitisch erklären."

"Inklusion fordert die Zusammenarbeit aller: aller Schulen, aller Schularten, aller Menschen in der Gesellschaft."

 

"Wir Sonderpädagog/innen in Bayern stellen uns gemeinsam den aktuellen pädagogischen Herausforderungen: Mit hoher Professionalität sowohl in einem stark ausdifferenzierten, überwiegend exklusiven Förderschulsystem zu arbeiten, als auch den zunehmend hohen Anforderungen im inklusiven Setting gerecht zu werden, den Prozess der Inklusion mitzutragen und mitzugestalten."

"Es lohnt sich für die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen. Denn Inklusion braucht Professionalität."

 

Weiterführende Literatur

  • Baier/Lengenfelder:
    Leider verfehlt; in: spuren – Sonderpädagogik in Bayern, Heft 3/2017, S. 20ff.

  • Bayerisches Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst (Hrsg.): Inklusion zum Nachschlagen, München 2015.


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