Der Fall
Michaels Eltern leben in Trennung. Sie haben die Kommunikation miteinander auf das Allernotwendigste reduziert. Aus diesem Grund verlangen sie von Lisa Müller, Michaels Lehrerin der 3. Klasse, Elternbriefe, Mitteilungen über Ordnungsmaßnahmen und allgemeine Informationen jeweils separat zu erhalten. Besonders brisant: Michael besucht seit seiner Einschulung den katholischen Religionsunterricht, seine Mutter will nun, anders als der Vater, dass er in den evangelischen Religionsunterricht wechselt.
Die These
Ob Michael weiterhin den katholischen Religionsunterricht besucht oder in den evangelischen wechselt, kann weder die Schule noch einer der beiden Elternteile allein entscheiden. Vorerst bleibt also alles beim Alten.
Die Argumente
Frau Müller kontaktiert die Schulleitung, die erhält über das Schulamt von der Regierung folgende grundsätzliche Auskunft: Leben die Eltern getrennt, haben aber ein gemeinsames Sorgerecht, sind zwei Bereiche zu unterscheiden.
Erster Bereich: Angelegenheiten des täglichen Lebens, die häufig vorkommen und keine schwer abzuändernde Auswirkung auf die Entwicklung des Kindes haben. Dazu gehört das Unterschreiben von Zeugnissen, die Teilnahme an Klassenfahrten oder an Gottesdiensten, die Einladung zu Elternabenden, das Ausstellen von Entschuldigungen, das Benachrichtigen über Ordnungsmaßnahmen ohne den Charakter eines Verwaltungsakts.
Der Elternteil, bei dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, darf Entscheidungen allein treffen. Die Schule braucht nur dieses eine Elternteil benachrichtigen und beteiligen. Der andere Elternteil kann nachträglich auf Anfrage durch die Schule informiert werden, soweit die Entscheidung Auswirkung auf die schulische Laufbahn haben würde. Den richtigen Ansprechpartner zu bestimmen, wird schwieriger, wenn die Eltern sich für das sogenannte Wechsel- oder Nestmodell entschieden haben. In diesem Fall ist derjenige Erziehungsberechtigte aktuell Ansprechpartner, bei dem das Kind sich gerade aufhält.
Zweiter Bereich: Schulische Entscheidungen von erheblicher Bedeutung, welche die Schullaufbahn des Kindes berühren. Dazu gehören der Zeitpunkt der Einschulung, die Wahl von Schulart und Schule, die Wahl der Fächerkombinationen und des Faches Religion, Ethik oder Islamischer Religionsunterricht, Hinweise über die Versetzungsgefährdung, Benachrichtigung über Ordnungsmaßnahmen, die den Charakter eines Verwaltungsakts haben (Schulausschluss, Versetzung in eine Parallelklasse).
In diesem Bereich werden Entscheidungen von beiden Elternteilen gemeinsam und einvernehmlich getroffen. Die Schule muss also immer beide Elternteile informieren und beteiligen. Gelingt keine gemeinsame einvernehmliche Entscheidung, überträgt auf Antrag des Vaters oder der Mutter das Familiengericht die Entscheidung einem Elternteil. Für das Handeln der Schule ist in diesem Fall der Nachweis der gerichtlichen Entscheidung ausschlaggebend.
Die Lösung
Lisa Müller weiß nun grundsätzlich, was sie zu tun hat: Sie teilt die Elternbriefe künftig an alle Schülerinnen und Schüler in einfacher Ausfertigung aus. Allerdings notiert sie sich ab jetzt immer, wann genau sie die Briefe ausgeteilt hat. Betrifft der Elternbrief oder die Mitteilung Entscheidungen von erheblicher Bedeutung, teilt sie allen Schülerinnen und Schülern mit getrennt lebenden Eltern und beiderseitigem Sorgerecht zwei Elternbriefe aus und achtet darauf, dass beide Elternbriefe vom jeweiligen Elternteil unterschrieben zurückkommen oder ein Elternbrief von beiden unterschrieben wurde. Alle Ordnungsmaßnahmen außer Verweisen und verschärften Verweisen sendet sie an beide sorgeberechtigten und getrennt lebenden Elternteile.
Im Konflikt um Michaels Religionsunterricht teilt sie den beiden Sorgeberechtigten jeweils mit: Es ist nur eine gemeinsame und einvernehmliche Entscheidung möglich. So lange das nicht der Fall ist, besucht Michael weiterhin den katholischen Religionsunterricht.
Wenn Schule Familie ersetzen soll
Alleinerziehende Sorgeberechtigte, in Trennung lebende Eltern, Patchworkfamilien - immer mehr Kinder wachsen unter anspruchsvollen Bedingungen auf. Doch auch in der klassischen Kleinfamilie wachsen immer häufiger Spannungen, weil beide Elternteile arbeiten und die Kinder nachmittags nur schwer oder gar nicht betreuen können. Der Fall Michael zeigt: Um konfliktträchtige Situationen entschärfen zu können, müssen die zulässigen Wege und Möglichkeiten der Kommunikation zwischen Schule und Familie geklärt sein.
Lehrkräfte brauchen Handwerkszeug
Die Bedeutung der Schule für die betroffenen Kinder und Jugendlichen in schwierigen familiären Situationen geht aber darüber hinaus: Die häusliche Situation spiegelt sich nicht selten im Sozial- und Leistungsverhalten in Kindergarten und Schule wider. Umso wichtiger, dass die Institution Schule einen stabilen und sicheren Handlungsrahmen bietet, transparente und beständige Strukturen pflegt und als Ansprechpartner in pädagogischer, erzieherischer und sozial-emotionaler Hinsicht zur Verfügung steht.
Mut und Wille zu einem verständnisvollen und gleichzeitig klaren und transparenten Auftreten gegenüber den Betroffenen sind ein wesentlicher Gelingensfaktor. Schule muss aber nicht nur als staatliche Organisation den Prinzipien der Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit genügen. Sie kann Schülern, und im Einzelfall sogar Eltern, Vorbild für den Umgang miteinander sein.
Die Klassenleitung ist die zentrale Bezugsperson im schulischen Leben der Kinder und Jugendlichen. Sie hat die Hauptverantwortung dafür, dass diese in schwierigen familiären Situationen eine gewisse Stabilität erfahren. Auch Vertrauenslehrkräfte und Sozialpädagogen der Jugendsozialarbeit an Schulen (JaS) leisten vor Ort Unterstützung. Wird die Verantwortung von der gesamten Schule mitgetragen und gelebt, von der Klassenleitung bis zur Schulleitung, dann werden es die betroffenen Erziehungsberechtigten leichter annehmen können, wenn ihnen zum Beispiel Unterstützung durch eine Erziehungsberatung oder durch eine Erziehungshilfe beim Jugendamt nahegelegt wird.
Lehrkräfte brauchen für diese anspruchsvolle Aufgabe Handwerkszeug - sowohl auf rechtlicher als auch kommunikativer Ebene. Regelmäßig vermitteln sollten es Schulleitungen in den Lehrerkonferenzen und staatliche Einrichtungen in Fortbildungen.
Relevante Gesetze
Art. 74 I 1 Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen ( BayEUG)
§ 1626 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), § 1629 BGB, § 1687 BGB
Artikel aus der bayerischen schule #1 2020