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Akzente - 4/2021 Startseite

Ein Hauch Fackju

Lang, lang ist's her. Doch was die BLLV-Präsidentin einst mit ihrer ersten Hauptschulklasse in Gang brachte, hat ihr Verständnis von Pädagogik und Leistung bis heute geprägt. Und das Leben ihrer Schüler.

24 Schülerinnen und Schüler der 7. Jahrgangsstufe im ersten Stock des Altbaus der Hauptschule in Feldkirchen. Manche kennen sich. Andere nicht. Viele Wechsler von Realschule und Gymnasium, einige Kinder aus dem Heim. Die Stimmung: Traurig. Lustlos. Resigniert. Aber hallo! Es ist doch der erste Schultag. Mein erstes Jahr nach dem Staatsexamen. Aufbruchstimmung: Los geht’s, Vollgas! Ich bin top motiviert. Alles vorbereitet.

Und dann kam alles anders

Auf diesen Tag hatte ich immer gewartet. Meine Klasse. Meine Kinder. Mein Weg mit ihnen durchs Schuljahr. Ich hatte in alle Schularten reingeschnuppert – und mich bewusst für das Lehramt Hauptschule entschieden. Ich wollte Kinder begleiten. Mit ihnen gemeinsam Neues entdecken. Sie auf ihrem so ganz besonderen Weg ganzheitlich bilden und erziehen. Also: mehr als einen Beruf ausüben. Dieser Berufung nachgehen.

Doch schnell wurde mir klar, dass ich wohl stranden würde mit meinen Projekt-Planungen, Stoffverteilungsplänen, der Verteilung der Lernziele und -arrangements auf die verschiedenen Wochen, den Vorhaben rund um die ganzheitliche Bildung, der kreativen Umsetzung der vielen Querschnittsaufgaben wie politische Bildung, Demokratiepädagogik, Alltagskompetenzen, Berufsorientierung, Methodentraining, Lernen lernen und einfach dem Umsetzen aller meiner ach so idealistischen pädagogischen Ideen.

Ich musste in den ersten Wochen schmerzvoll erleben: Diese Kinder waren einfach nicht bereit. waren gar nicht offen für das Lernen, die Projekte und das soziale Miteinander. Da war zum Beispiel diese Schülerin, die sich wunderte, dass ich mich immer so aufregte, wenn sie ihre Hausaufgaben nicht machte. In einem intensiven Gespräch sagte sie mir dann, dass sie überhaupt nicht verstehe, warum ich mich da so stressen würde. Es würde doch eh niemand von ihr erwarten, dass sie Leistung bringt.

Schülerinnen und Schüler, die nachmittags im Heim waren, suchten nach etwas ganz anderem. Nicht nach dem Pythagoras, nicht nach dem Portfolio in GSE oder der Projektarbeit in PCB. Sie suchten Anerkennung. Hatten sie ihre Hausaufgaben nicht erledigt, mussten sie Lernstoff nachholen; fehlten ihnen mal wieder die Unterlagen, ließ ich sie oft nachmittags bei mir. Für sie war das keine Strafe. Sie wollten mit mir zusammen sein. Sie wollten mit mir nach Hause fahren. Sie wollten für mich da sein. Sie erkannten schon morgens in der Pausenhalle, wie es mir geht. Und sagten es mir. Sie nahmen mich als ganzen Menschen war. Sie wollten, dass ich sie als ganze Menschen begleite.

Das Experiment: Drei Monate keinen Unterricht

Normaler Unterricht war mit diesen Kindern einfach nicht drin. Mir wurde klar: Meine Klasse, diese Klasse braucht etwas ganz anderes. Irgendwann spürte ich, dass es gut wäre, wenn wir alle den Leistungsdruck einfach beiseite lassen, wenn wir die vielen Fächer sein lassen würden. Wenn wir die Lernziele nicht abhaken müssten. Wenn ich einfach schauen würde, was diese Kinder eigentlich brauchen.

Ich packte all meinen Mut zusammen und entwickelte einen Arbeitsplan für die nächsten drei Monate. Einen, der sich nicht an den Lernzielen orientierte und auch nicht am Stundenplan. Einen Plan, der nicht die Fächer, die Leistungen und die Hausaufgaben in den Mittelpunkt stellt, sondern die Bedürfnisse der einzelnen Kinder. Mit diesem Vorhaben ging ich zum Schulleiter. Ich bat: Könnten Sie mir erlauben, dass ich mit meiner siebten Klasse einfach drei Monate keinen Unterricht mache?

Ich will mit ihnen machen, was sie jetzt brauchen, erklärte ich. Sie brauchen Philosophie statt Pythagoras. Sie brauchen jetzt weder das Volumen zusammengesetzer Körper noch das Auswendiglernen von Geschichtsdaten, sie brauchen Persönlichkeitsbildung. Sie müssen wissen, wer sie sind. Sie müssen erleben, dass sie was können. Zu sich finden. Teamfähigkeit trainieren. Wenn wir das geschafft haben, dann werden sie lernen können. Davon war ich überzeugt. Ein paar Hürden musste ich noch nehmen: beim Schulamt vorsprechen, die Eltern und Erzieher aus dem Heim ins Boot holen, in der Lehrerkonferenz berichten. Und dann war es so weit! Wir starteten unser Projekt: Wir, die 7b!

In den kommenden drei Monaten waren wir viel unterwegs. Wir waren oft an außerschulischen Lernorten. Wir waren auch mehrfach im Schullandheim. Wir arbeiteten im Klassenzimmer, auf den Tischen, am Boden, in den Gängen, im Pausenhof, im Treppenhaus. Eigentlich überall. Die Schülerinnen und Schüler suchten sich Inhalte, über die sie was lernen wollten. Stellten Fragen an die Phänomene der Welt. Fanden Antworten. Sie machten den Plan.

Erfolgreich auf allen Ebenen

Sozialromantik? Der Untergang des bayerischen Schulsystems? Leistung über Bord? Nein: die blanke Realität. Meine Realität in meiner ersten 7. Klasse. Ist es gut gegangen? Ja! Alle Schülerinnen und Schüler konnte ich vier Jahre lang begleiten. Alle schafften ihren mittleren Bildungsabschluss – und das nicht schlecht. Heute noch habe ich mit diesen Menschen den engsten Kontakt, den ich je zu Schülerinnen und Schülern hatte. Wegen dieser drei Monate. Die haben sich vielfach ausgezahlt: Für die Schülerinnen und Schüler, für ihre Abschlüsse, für ihre Berufe, für ihr Leben. Und auch für mein Leben. // Simone Fleischmann

Artikel aus der bayerischen schule #4 2021

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