Ferdinand Sutterlüty
Experteninterview Themen
Psyche

"Gewalttäter verspüren einen großen Leidensdruck"

GEWALT GEGEN LEHRER - „Gewaltkarriere“ – das ist der zentrale Begriff in der Forschung des Soziologen Ferdinand Sutterlüty. Er hat herausgefunden: Fast immer haben Gewalttäter als Kinder in ihren Familien selbst Gewalt erlebt oder beobachtet. Im Gespräch mit der bayerischen schule erklärt Sutterlüty, was Lehrerinnen und Lehrer dazu beitragen können, den Weg in die Gewalt zu verhindern. Von Chris Bleher

Herr Sutterlüty, die Jugendlichen, die Sie für Ihre Forschungsarbeit über "Gewaltkarrieren" interviewt haben, haben als Kinder selbst unter Gewalt in der Familie gelitten. Müssten sie Gewalt nicht eigentlich verabscheuen?

Doch, die Täter wissen auch, dass Gewalt kein erfolgreiches Problemlösungsverhalten ist. Sie haben als Kinder erlebt, dass Gewalt alle positiven Interaktionen in ihrer Familie zerstört hat. Und sie spüren es später, wenn sie selbst gewalttätig werden, erneut: Andere meiden sie, sie haben Probleme mit ihren Lehrern und so weiter.

Und warum schlagen diese Jugendlichen dann trotzdem zu?

Genau diese Frage war der Ausgangspunkt für meine Arbeit. Diese Jugendlichen fühlen sich ganz schnell herausgefordert, beleidigt oder gekränkt. Sie haben das Gefühl, sofort reagieren zu müssen. Dass sie zuschlagen, ist eben gerade kein Kalkül. Sie wägen die Kosten und Nutzen ihres Tuns gerade nicht ab, sondern reagieren zwanghaft nach Mechanismen, die sie ganz früh gelernt haben. Sie stehen unter einem ganz starken Leidensdruck. Und hier kann man ansetzen, indem man den Tätern ermöglicht, ihre eigene Vergangenheit zu verstehen.

Manche Jugendliche aber schaffen es von allein, aus dem Kreislauf der Gewalt auszubrechen.

Man muss die Familien der Täter genauer ansehen. Ich habe unter anderem zwei junge Frauen interviewt, die in katastrophalen Verhältnissen aufgewachsen sind. Die eine war türkischstämmig, die Eltern der anderen kamen aus einem arabischen Land. Beide wurden von ihren Vätern geschlagen, weil sie Kontakt zu gleichaltrigen Jungs hatten. Sie mussten vor ihrem Vater niederknien, er schlug sie ins Gesicht.

Es war also nach Ihren Erkenntnissen wahrscheinlich, dass beide Frauen einmal selbst gewalttätig würden.

In der Familie des einen Mädchens stellten sich Mutter und Geschwister hinter den Vater. Bei der anderen hatte der Vater die ganze Familie gegen sich. Das Mädchen bekam also Unterstützung innerhalb der Familie, ihre Ohnmachts- und Miss- achtungserfahrungen durch die Gewalt des Vaters waren deshalb nicht so massiv. Und dieses Mädchen trat später eben keine Gewaltkarriere an. Für die Entwicklung eines Jugendlichen aus gewalttätigen Familien ist entscheidend, ob andere Menschen da sind, die als Anwälte wirken und das Unrecht als solches benennen. Kinder, die geschlagen werden, glauben, sie hätten es nicht anders verdient. Sie entwickeln ein negatives Selbstbild. Das können Menschen, die eine Anwalts- oder Schutzfunktion übernehmen, verhindern. Das ist ein großer Hebel, auch für Lehrerinnen und Lehrer.

Gibt es weitere Schutzfaktoren?

Besondere Fähigkeiten. Vielleicht ist das Kind gut in einem Fach in der Schule, musikalisch oder sportlich. Ein solches Können, und sei es nur in einem Bereich, und eben gelingende Beziehungen zu anderen - das hilft, ein positives Selbstbild zu entwickeln. Lehrerinnen und Lehrer können viel bewirken, indem sie dem Kind seine eigenen Fähigkeiten bewusst machen, und es darin fördern.

Ein Schläger, mit dem Sie sprachen, knallte seine Springer- stiefel auf den Tisch, nahm Ihnen das Mikro weg und sagte, Sie hätten von Gewalt keine Ahnung. Wie haben Sie es geschafft, die Abwehrhaltung Ihrer Gesprächspartner zu überwinden?

Wichtig ist, ihnen Anonymität zuzusichern. Und der Jugendliche muss spüren, dass ich ihn ernst nehme, gerade weil ich beispielsweise seine Aussagen hinterfrage, wenn mir Zweifel kommen. Jugendliche wollen wissen, wer sie sind. Ich habe ihnen versprochen: Wenn du ein Interview mit mir machst, weißt du danach mehr über dich selbst.

 

Es ist ein großer Unterschied, ob ich Gewalt in einer Kriegs- oder Fluchtsituation erfahre, oder ob mir meine engsten Bezugspersonen Gewalt antun.

 

Es hört ihnen jemand zu - das war wohl für viele eine neue Erfahrung.

Genau. Da saß auf einmal jemand, der ihnen stundenlang zuhört und an allem interessiert ist, was sie sagen. Wenn ich in so einem Gespräch dann sagte, vorhin hast du doch das und das erzählt, waren sie überrascht, was ich mir alles merke. Sie erlebten es als Aufwertung, dass ihre Lebensgeschichte für einen anderen zählt. Und dass ich nicht urteilte, sondern verstehen wollte, wie sie sich entwickelt haben.

Welche Haltung sollten Lehrer einnehmen?

Es gibt nicht die eine Lösung oder die eine Haltung für alle. Manche Lehrer haben schlichtweg Angst. Fatal wird es, wenn sie sich nicht mehr trauen, eine Pausenaufsicht zu machen. Dann gibt es wiederum Sozialarbeiter, die früher Boxer waren, die gehen auf solche Kinder ganz anders zu.

Sie selbst sehen nicht aus wie ein Boxer und hatten offensichtlich trotzdem keine Angst.

Man muss ja nicht Boxer sein, um keine Angst zu haben. Man findet einen Zugang, indem man Vertrauen herstellt. Wenn Sie Angst haben, wird das kaum gelingen. Wichtig ist eben, dass Lehrerinnen und Lehrer sich selbst gut und ehrlich einschätzen können, und dann mit Kollegen absprechen, wem es gelingen könnte, ein vertrauensvolles Verhältnis zu so einem Kind aufzubauen.

Es wird viel über Gewalt gesprochen und geschrieben. Schnell entsteht der Eindruck, Jugendliche würden immer brutaler und immer früher gewalttätig.

Nähme die Gewalt tatsächlich jedes Mal zu, wenn es behauptet wird, könnten wir gar nicht mehr vor dir Tür gehen, ohne sofort umgebracht zu werden. Dass Gewalt in den letzten Jahrzehnten bei uns stetig zugenommen hätte, ist schlichtweg falsch. Das belegen alle ernstzunehmenden Untersuchungen. Was zugenommen hat, ist unsere Sensibilität gegenüber Gewalt. Nehmen Sie die Ehe: Gewalt in der Ehe ist heute eine Straftat. Überhaupt gilt in unserer Gesellschaft Gewalt in der Familie nicht mehr als legitim.

Wenn das die vorherrschende Haltung ist, müsste Gewalt in Familien viel stärker abgenommen haben, als es tatsächlich der Fall ist. Wie erklären Sie sich das?

Zum einen ist der Umgang unter Familienmitgliedern sehr körperlich. Man kommt sich näher als in anderen sozialen Kontexten. Problematisch sehe ich auch die oft sehr hohen Erwartungen der Eltern an die Kinder. Die sollen schaffen, was man selbst nicht geschafft hat. Das führt zu Enttäuschungen und Enttäuschungen führen dazu, dass Kinder nicht gut behandelt werden. Das wiederum führt bei den Kindern zu Verhaltensproblemen und so weiter. Ausschlaggebend ist auch, dass die Familie ein privater und geschützter Raum ist. Im Fall von Gewaltanwendung: ein abgeschotteter. Familien, die besonders isoliert sind, weisen die höchsten Gewaltraten auf. Man muss sich da schon mal fragen, ob die bür- gerliche Kleinfamilie tatsächlich die beste Lebensform ist. Die Isolation dieser Kleinfamilie führt nämlich dazu, dass Kinder keine Anwälte haben, also weniger Schutz und Ausgleich durch Dritte.

Etwa Lehrerinnen und Lehrer?

Es kommt nicht selten vor, dass Jugendliche selbst um Inobhutnahme bitten, ihre Familie also verlassen wollen. So etwas läuft dann über das Jugendamt, nicht über die Schule. Aber Lehrer können wichtige erste Ansprechpartner sein, die auch das Recht haben, sich vom Jugendamt beraten zu lassen, was zu tun ist, wenn ein Jugendlicher sich an sie wendet.

Das vollständige Interview lesen Sie in der bayerischen schule, Ausgabe 2/2017



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