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Im Zweifel für das Herz

Nach Pestalozzi sind zahllose Straßen und Schulen benannt. Was hat der große Pädagoge sonst hinterlassen? Eine Hommage von Max Liedtke, emeritierter Professor für Pädagogik an der Uni Erlangen-Nürnberg.

Welche Gründe kann man haben, sich zur Lösung aktueller pädagogischer Probleme Hilfe bei einem Pädagogen holen zu wollen, der vor fast zwei Jahrhunderten verstorben ist? Er kannte noch keine empirisch untermauerte Pädagogik. Erst recht konnte er keine Vorstellung davon haben, vor welchen konkreten Problemen die heutige Schule steht. Es darf nicht um blinde Verehrung gehen. Aber natürlich ist nicht ausgeschlossen, dass er elementare Einsichten hatte, die nicht überholt sind. Es gibt davon viele bei Johann Heinrich Pestalozzi.

Verehrung durch die Lehrer

Pestalozzi war am 17. Februar 1827 verstorben. Das Sitzungsprotokoll des Nürnberger Lehrervereins vom 16. Juni 1827 vermerkt: „Tiefe Rührung ergriff die anwesenden Mitglieder am heutigen Abend, als H. Vorstand nach dem Vorlesen des Protokolls die allg. Schulzeitung aufschlug und die schwarze Einfassung des Blattes zeigte, den Myrtenkranz des verstorbenen, unsterblichen Pestalozzi. So trauerten öffentliche Blätter um Maximilian, den Guten [gemeint ist der 1825 verstorbene König Max I. Joseph: A.d.V.], und auch dem Vater der Pädagogen widerfuhr diese königliche Ehre.“

Warum diese Verehrung? Diese Lehrer sahen in Pestalozzi den Begründer einer neuen, wissenschaftlichen Pädagogik, der es darum ging zu erfahren, „was der Gang meines Lebens … aus mir gemacht hat“ und „was der Gang des Lebens … aus dem Menschengeschlecht macht“ (W 12, 6)1. Sie hatten selbst erlebt, in welchem Maße Pestalozzi den Ausbau des Schulwesens in Mitteleuropa vorangetrieben und wie er sich dabei insbesondere um die unterprivilegierte Bevölkerung gekümmert hat: „Von Jugend auf ging das Ziel meines Lebens dahin, den Armen im Land durch tiefere Begründung und Vereinfachung seiner Erziehungs- und Unterrichtsmittel ein besseres Schicksal zu verschaffen“ (W 25, 277).

Weder hat er das eine, noch das andere im Laufe seines Lebens erreicht. Wie sollte er im Detail herausfinden, was der Gang seines Lebens aus ihm gemacht hat? Wie sollte er herausfinden, mit Hilfe welcher Faktoren sich gesellschaftliche Entwicklungen steuern lassen? Wie sollte er in seiner Lebenszeit weltweit den Armen ein besseres Schicksal verschaffen? Aber er hat das Wissen seiner Zeit genutzt, um daraus Anstöße zu geben, die wegweisend waren. Noch gewichtiger war es, dass er eben noch zu seinen Lebzeiten großen Einfluss auf die Entwicklung der Schulen ausgeübt hat. Der Bayerische Volksschullehrplan von 1804, der den Fächerkanon erstmals über die traditionellen Inhalte von Religion und elementaren Schreib- und Rechenunterricht erweiterte, zeigt deutliche Spuren Pestalozzis. Auch wenn dieser Lehrplan 1811 schon wieder erheblich beschnitten wurde, Pestalozzis Anliegen wurde insbesondere durch die Lehrerschaft bis ins 20. Jahrhundert weitertransportiert und umgesetzt. Dazu zählt auch die Gründung zahlreicher pädagogischer Einrichtungen. Es gibt im deutschsprachigen Raum keinen Pädagogen, der häufiger als Pestalozzi Schulen und Straßen seinen Namen gegeben hat.

„Der Mensch muss nicht bleiben, was er ist"

Die Basis seiner Pädagogik war sein pädagogischer Optimismus: „Der Mensch muss nicht bleiben, was er ist" (W 14, 207). Das bedeutete: Der Glaube an einen statischen Begabungsbegriff war in Zweifel gezogen, die Gottgegebenheit der ständischen Zuordnung der Menschen war in Frage gestellt, die Möglichkeit der Bildsamkeit bisher als bildungsunfähig angesehener Menschen war Programm geworden.

Dass der Mensch nicht bleiben muss, was er ist, ist keine simple Behauptung. Der Satz hat sich in der Schulgeschichte bestätigt und folgt dem Gesetz der Evolution, dass ein Phänotyp immer als Produkt von Anlage und Umwelt anzusehen ist. Verändert man einen der beiden Faktoren, ändert sich der Phänotyp. Natürlich kann dies nicht eine beliebige Veränderbarkeit bedeuten, aber mindestens eine breitere Austestbarkeit der Umweltfaktoren, als sie jemals vorher denkbar erschien.

„Kopf, Herz, Hand“: Was sollen wir damit machen?

Trivial: Pestalozzi konnte nicht voraussehen, dass das Wissen sich in exponentieller Weise entwickeln würde. In den Lehrplänen der heutigen Mittelschulen sind längst Inhalte aufgetaucht, die um 1800 noch an den Universitäten unbekannt waren. Die Lernzeiten nehmen zu, die Sitzzeiten ebenso. Es ist dringend erforderlich, dass ausgleichend auf hinreichende Bewegungszeiten geachtet wird.

Trivial: Digitalisierung/Virtuelle Welten: Pestalozzi würde sich nicht gegen die neuen Unterrichtsfelder wehren, schon weil er das Lehrangebot der Schule, besonders wenn es sich um Schlüsselfelder handelt, nicht beschneiden würde. Er wäre voller Ängste, dass Anschaulichkeit, und zwar reale, verloren gehen könnte, und würde nach Ausgleich suchen.

Nicht trivial: Kopf, Herz, Hand sind nicht von gleichem Rang. Dass das Leben einen Wert besitzt, wird ausschließlich emotional erfahren. Kopf und Hand sind Dienstleister. Im Zweifel für das Herz, die Emotion.

(Artikel aus der bayerischen schule #3 2019)

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