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Die Abendzeitung und zahlreiche andere Medien über Kleiderordnung an den Schulen Startseite Topmeldung

Reizthema Kleiderordnung an den Schulen

UPDATE: Mit Kommentar von BLLV-Vizepräsident Tomi Neckov | Bundeselternrat will Kleiderordnung und löst Debatte aus. Dabei geht es aber in erster Linie nicht um Jogginghosen oder Freizügigkeiten, weiß BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann.

"Schulen mit Klamotten-Knigge?" fragt die Abendzeitung (AZ) in ihrer Überschrift in der Ausgabe vom 9. September 2023, und weiter: "Brauchen Schulen eine Kleiderordnung? Der Bundeselternrat hat diese Diskussion angeregt. Die Vorsitzende Christiane Gotte hatte gesagt: 'Wir empfehlen Schulen, einen Konsens über eine Kleiderordnung zu schließen.' Dieser sollte dann auch in die Hausordnung aufgenommen werden. 'Dann kann man Schülerinnen oder Schüler nach Hause schicken und verlangen, dass sie sich ordentlich anziehen.' Meist gehe es dabei um 'unangemessene, lottrige, zerrissene oder freizügige Kleidung'."

Ein Thema mit vielen Aspekten und einem Ursprung in Frankreich

BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann wurde von der AZ zum Thema befragt. Sie kennt die unterschiedlichen Aspekte des Themas: „Die Diskussion um eine Kleiderordnung ist so alt wie die Schulen selbst.“ Grundsätzlich ist ihr zunächst wichtig, genau zu unterscheiden – denn der Ursprung der aktuellen Diskussion liege in Frankreich, wo man eine ganz andere Frage in den Mittelpunkt stellt. Macrons Vorstoß sei eher religiös motiviert und beinhalte die Diskussion um die Abaya bei Musliminnen. Es gehe dort also eher um Integration, den respektvollen Umgang mit verschiedenen Kulturen, so Fleischmann. In Deutschland habe sich nun aber eine Diskussion um eine Kleiderordnung entsponnen, angestoßen vom Bundeselternrat: „Ich bin für eine vertiefte Diskussion und ich bin dafür, dass man mit Schülerinnen und Schülern über Kleidung spricht, ohne dass wir dafür einen Auftrag bekommen. Wir brauchen keinesfalls von Bundesebene aus eine Wahnsinnsdiskussion, um uns vor Ort zu sagen, wie wir mit den Kindern und ihren Klamotten umgehen sollen.“

Simone Fleischmann sprach sich nicht grundsätzlich gegen Spaghetti-Top und kurzen Rock aus, es komme immer auch darauf an, um welche Schulform und welches Alter es sich handelt. Solange es in einer Klasse damit keine Probleme oder Übergriffe gibt oder eben auch Schülerinnen und Schüler anderer Kulturen damit nicht vor den Kopf gestoßen werden.

Freizügigkeit ist das eine, soziale Ungleichheiten und Armut bei Familien das andere

Natürlich ist ein Aspekt des Themas auch, soziale Ungleichheiten in der Schule nicht allzu sehr in den Mittelpunkt treten zu lassen. Aber kann eine Kleiderordnung das Problem lösen? Die Frage beschäftigte auch die Berliner Morgenpost, die zu dem Thema mit Tomi Neckov sprach, 2. Vizepräsident des BLLV und stellvertretender Bundesvorsitzender des VBE:„Eine Zurschaustellung des elterlichen Verdienstes kann schließlich auch ohne Kleidung, beispielsweise über die Federtasche oder andere Utensilien, stattfinden.“ Außerdem wäre es für finanzschwächere Haushalte eine zu große Belastung, noch spezielle Schulkleidung anschaffen zu müssen. Hinzu komme: „Längst tragen nicht mehr alle Schülerinnen Kleider und alle Schüler Hemd und Hosen." Schuluniformen würden der Vielfalt, die innerhalb der Gesellschaft und somit auch in den Schulen zu finden ist, nicht gerecht.
 

Kommentar zum Thema von BLLV-Vizepräsident Tomi Neckov

Schuluniform: Über was reden wir hier eigentlich?

Mitten in einer nie dagewesenen Bildungskrise und eines allgegenwärtigen Lehrkräftemangels wird über Schuluniformen diskutiert. Die Debatte wirkt wie aus der Zeit gefallen und doch ist es eine Frage, die an den Schulen tagtäglich Thema ist. Unsere Ideale sind hierbei schon viel weiter als unsere Lebenswelten.

Die Frage nach Schuluniformen spaltet die Geister. Auf der einen Seite eine praktische Lösung, auf der anderen Seite eine Zumutung. Die Gründe für die eine oder andere Position können verschieden sein. Blicken wir von unserem gesellschaftlichen Selbstverständnis einer offenen Gesellschaft, einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, eines Grundgesetzes sowie der Menschen- und der Kinderrechte auf diese Debatte, dann geht es beim Thema Schuluniformen im Kern allein um die Frage der Grundrechte. Die Schule ist ein Ort der Gesellschaft und in ihr bildet sich die Gesellschaft ab.

Wir müssen aufhören, den Menschen und insbesondere Kindern und Jugendlichen irgendwelche scheinbar vorhandenen Leitkultur-Standards aufzuzwingen. Das Gesetz regelt die Freiheitsrechte und dazu gehört insbesondere das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (GG, Art. 2). In immer mehr Schwimmbädern ist es weiblichen Personen erlaubt, ‚oben ohne‘ zu schwimmen und in Schulen diskutieren wir ernsthaft noch über Schuluniformen?

Schule nicht anders behandeln als den öffentlichen Raum

Man muss in der Schule ja nicht für ‚oben ohne‘-schwimmen sein, aber es ist anmaßend, Kindern und Jugendlichen vorzuschreiben, was sie zu tragen hätten, solange es keine gravierenden Gründe dafür gibt, wie beispielsweise Sicherheitsbedenken (z.B. Helmpflicht für Motorradfahren oder auf Baustellen). Solange es sich nicht um eine ‚Erregung öffentlichen Ärgernisses‘ handelt, kann und sollte nicht eingegriffen werden. Die gesellschaftliche Vielfalt ist da und sie muss erlaubt sein in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Solange keine strafbaren Handlungen vorliegen, läuft jede Diskussion im Bereich der äußeren Erscheinung auf ein bestimmtes engeres Kulturverständnis hinaus, das wiederum aus Sicht des Grundgesetzes aufgrund des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gar nicht vorgegeben werden darf.

Nun kann es gesellschaftliche Kontexte geben, in denen eine bestimmte Kleidung eine Funktion hat und das Tragen vorausgesetzt wird (z.B. Sicherheitskleidung oder bestimmte Dienstbekleidungen), aber für solche grundsätzlichen Vorgaben gibt es im Bildungsbereich keinerlei überzeugende Begründungen. Bildung und Erziehung benötigt im Allgemeinen keine spezifische Kleidung (um zu Lernen braucht es keine Schuluniform), sondern im Gegenteil: Bildung und Erziehung soll die freie Entfaltung der Persönlichkeit fördern. Deshalb braucht es auch keine zusätzlichen Vorschriften. Alles, was im öffentlichen Raum an rein äußerer Erscheinung einer Person erlaubt ist, muss auch in der Schule erlaubt sein.

Hohe Hürden für persönlichkeitseinschränkende Vorschriften

Die Schule ist ein Bildungsort und ein besonderer Ort des Kinder- und Jugendschutzes und man könnte argumentieren, dass dies begründet, warum es hier besondere Kleiderverordnungen für den Alltag geben muss. Allerdings widerspricht es insbesondere dem Geist der Kinderrechte, Kindern und Jugendlichen irgendwelche persönlichkeitseinschränkenden Vorschriften zu machen, wenn diese nicht nachweislich dem Wohl des Kindes dienen (UN-KRK, Art. 3) bzw. das Wohl des Kindes durch das Fehlen solcher Vorschriften nicht nachweislich gefährdet ist. Ganz besonders dann, wenn der Wille des Kindes nicht angemessen berücksichtigt wird (UN-KRK, Art. 12).

Ausnahmen können beispielsweise Regen- und Winterbekleidung darstellen bzw. anlassbezogene Kleidung für spezifische Situationen, da es hierbei durchaus um das Wohl des Kindes gehen kann. Aber selbst hier ist ein massiver Eingriff in die Selbstbestimmung (z.B. „Du ziehst das jetzt an!“) nur selten überzeugend begründbar. Wichtig ist, dass Lehrkräfte mit Schülerinnen und Schülern auch über Kleidung sprechen und wie in der Klasse beziehungsweise an der Schule damit umgegangen werden soll. Es kommt dabei auch immer darauf an, um welche Schulform und um welches Alter es sich handelt.

Problemverschiebung verhindert konstruktive pädagogische Arbeit

Wenn eine bestimmte Kleidung den Unterricht stört, dann ist dies oft nicht ein Problem der Kleidung oder des Kindes, das die Kleidung trägt. Es ist ein Problem der (Unterrichts-)Kultur, die offenbar noch nicht fähig ist, den grundgesetzlich verankerten Selbstanspruch der offenen Gesellschaft auf freie Entfaltung der Persönlichkeit zu erfüllen.


Auch nach über 70 Jahren ist die freiheitlich-demokratische Grundordnung unserer Kultur noch weit voraus. Sachlich kaum ernsthaft begründbare Verbote sind nicht die Lösung für Probleme, sondern verschieben diese lediglich an andere Orte und verhindern damit eine Auseinandersetzung mit der Thematik – insbesondere in pädagogischen Settings, in denen es ja möglich ist, als problematisch erachtete Verhaltensweisen zu adressieren und konstruktiv damit zu arbeiten.

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