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Schulpflicht: Schikane oder Privileg – ist das wirklich die Frage?

„Ein Skandal für bürgerliche Eltern“, so betitelten kürzlich die Nürnberger Nachrichten einen Artikel zur gesetzlichen Verankerung der Schulpflicht vor genau 100 Jahren. Die Schlagzeile greift eine Debatte auf, die diese Regelung lange begleitet.

Dass der Staat für das öffentliche Schulwesen und die Schulpflicht die Verantwortung übernahm, eröffnete einerseits Kindern aus bildungsfernen Familien überhaupt erst die Chance, eine Schule zu besuchen. Bildung wurde für sie eine davor nicht erreichbare Lebensgrundlage. Doch bürgerliche Eltern sahen gerade darin einen Angriff auf das Bildungsprivileg, das ihren Kindern bisher zu Gute kam. Die Nürnberger Nachrichten zitieren dazu Elmar Tenroth, emeritierter Professor für historische Erziehungswissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin: Er führt aus, dass die Zumutung auch darin lag, dass die "Kinder aus den Vorderhäusern mit den Kindern aus den dreckigen, stinkenden Hinterhäusern in einer Schulbank sitzen sollten".

Inzwischen hat sich die Gesellschaft tiefgreifend gewandelt, solche Vorurteile sind entkräftet und auch im Bayerischen Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) ist die Schulpflicht fest verankert. Der Art. 35 Abs. 4 BayEUG bestimmt hier, dass die Erziehungsberechtigten minderjährige Schulpflichtige bei der Schule anmelden müssen, an der die Schulpflicht erfüllt werden soll; volljährige Schulpflichtige haben sich selbst anzumelden. Darüber hinaus wird im Art. 118 BayEUG Schulpflicht als Schulanwesenheitszwang definiert. Eine Hausbeschulung ist damit außer in Ausnahmen, wie bei gesundheitlichen Einschränkungen, gesetzlich nicht vorgesehen. Und genau hier bestehen - auch nach 100 Jahren - noch erhebliche Kontroversen.

Wichtiges Prinzip, Einzelfälle genau anschauen

Manche Eltern sehen diese Regelungen als Eingriff in ihre Rechte: Sie verstehen Lehrpläne und Noten als Gängelei oder wollen die Kinder vor Mobbing und ähnlichen negativen Erfahrungen schützen. Für streng-religiöse Familien wiederum stehen einzelne Unterrichtsinhalte wie z. B. der Schwimmunterricht, die Sexualkunde oder die Evolutionstheorie, im Widerspruch zu ihrer Weltanschauung.

Ist die gesetzliche Bestimmung, dass Kinder ein Recht auf einen geschützten Raum haben, in denen ihnen Wissen vermittelt wird also Schikane oder ein Privileg, das über Jahrhunderte hinweg erkämpft wurde? Die unterschiedlichen Haltungen basieren auf tief verwurzelten Überzeugungen, so dass es kaum eine leichte Einigung in dieser Frage geben kann.

Daher äußert sich Simone Fleischmann, die Präsidentin des BLLV, gegenüber der Nürnberger Nachrichten differenziert: "Ich habe eine sehr liberale Einstellung und bin offen für Einzelfälle und individuelle Lösungen, aber wir können nicht über eine generelle Lockerung des Hausunterrichts sprechen."

Schule bekommt öffentlichen Charakter

Fleischmann steht ein für das Recht auf Bildung, schlägt aber für die zukünftigen Debatten eine Verschiebung des Blickwinkels vor und verweist auf die gewandelte Rolle der Schulen. Diese haben in den vergangenen Jahren viele gesellschaftliche Aufgaben übernommen wie die Vermittlung von Alltagskompetenzen, Inklusion, Integration sowie Demokratie- und Medienbildung. "Schule schottet sich nicht mehr ab," sagt Fleischmann, "sondern hat in Kooperation mit den Eltern einen öffentlichen Charakter bekommen."

Der BLLV macht sich so für eine Schule stark, in deren Obhut Eltern ihre Kinder gerne geben und in die Kinder gerne gehen. Eine breite Unterstützung der Lehrkräfte bei dieser anspruchsvollen und gesellschaftlich so wichtigen Aufgabe ist die unbedingte Voraussetzung dafür.

Zitate aus Ein Skandal für bürgerliche Eltern, in: Nürnberger Nachrichten, vom 10. September 2019