Bild: Hans-Jochen Vogel, einstiger SPD-Chef und ehemaliger Oberbürgermeister Münchens, war langjähriges BLLV-Mitglied. Im Alter von 94 Jahren ist er jetzt in München gestorben.
Bild: Hans-Jochen Vogel, einstiger SPD-Chef und ehemaliger Oberbürgermeister Münchens, war langjähriges BLLV-Mitglied. Im Alter von 94 Jahren ist er jetzt in München gestorben.
Zum Tod von Hans-Jochen Vogel Startseite

Streitbarer Anwalt für Gerechtigkeit und Demokratie

Am 26. Juli 2020 ist der frühere SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel im Alter von 94 Jahren gestorben. Der BLLV trauert um einen Mitstreiter und ein langjähriges Mitglied, das sich stark machte für ein langes gemeinsames Lernen von Schulkindern und die Schlüsselrolle betonte, die Schule und Lehrerschaft bei Demokratievermittlung einnimmt.

>> Ein Nachruf von Dr. h.c. Albin Dannhäuser, BLLV- Ehrenpräsident

Hans-Jochen Vogel, einer der letzten großen Politiker der deutschen Nachkriegsgeschichte, war seit 1967 Mitglied des BLLV. Als Oberbürgermeister der Landeshauptstadt ernannte ihn der Münchner Lehrer- und Lehrerinnenverband zu seinem Ehrenmitglied. Seine besondere Nähe zum BLLV reicht allerding bis in die 1950er Jahre zurück. 1954 bildete sich die legendäre Viererkoalition aus SPD, FDP, BHE und Bayern-Partei und schickte die CSU in die Opposition. Zum Ministerpräsidenten wurde Wilhelm Hoegner gewählt, der Hans-Jochen Vogel in die Staatskanzlei berief. Diese Koalition gegen die CSU kam auch unter Mitwirkung des späteren BLLV- Vorsitzenden Wilhelm Ebert zustande, weil sie das gemeinsame Ziel der überkonfessionellen Lehrerbildung verband. Während und nach den Koalitionsverhandlungen fand sich auf  Einladung Eberts im BLLV-Haus regelmäßig ein "Montagskreis" zusammen, in dem  die aktuelle Lage und Gestaltung der Landespolitik besprochen wurde. Diesem Kreis gehörte auch Hans-Jochen Vogel an. 

Dort und in allen seinen herausragenden Ämtern verstand sich Vogel vor allem als Anwalt für soziale Gerechtigkeit und Demokratie: Als Oberbürgermeister Münchens,  SPD-Landes- und Bundesvorsitzender, als Regierender Bürgermeister von Berlin, als Bundesminister in den Kabinetten Willy Brandt und Helmut Schmidt, als Fraktionschef und Kanzlerkandidat.

Vogel errichtete in den 70ern eine von bis heute zwei Gesamtschulen in Bayern
Sein Impetus für soziale Gerechtigkeit manifestierte sich in allen  Feldern der Politik - nicht zuletzt auch in der Schulpolitik. In seiner Ära als Münchner Oberbürgermeister fasste 1969 die SPD-Stadtratsmehrheit den Beschluss zum "Schulversuch Integrierte Gesamtschule", die 1970 eröffnet wurde und bis heute als eine von nur zwei Gesamtschulen in ganz Bayern existiert. In der Folge wurde auch die schulartunabhängige Orientierungsstufe in München Neuperlach eingerichtet. Hans-Jochen Vogel ging es dabei um die Förderung von Kindern in einer längeren gemeinsamen Schulzeit, um die Bildungschancen sozial Benachteiligter zu verbessern.

In diesem Verständnis unterstützte er auch das Volksbegehren des BLLV gegen die Einführung der 6-stufigen Realschule. Dieses richtete sich gegen die frühe Auslese von noch mehr Kindern und damit gegen die Verschärfung der sozialen Selektion. Im Herbst 1998 sondierte ich in einem Acht-Augengespräch mit Hans-Jochen Vogel, Georg Kronawitter und Christian Ude, ob sie ein solches Volksbegehren befürworten und wie sie die Erfolgsaussichten einschätzen würden. Während Georg Kronawitter Bedenken äußerte, stellte Hans-Jochen Vogel fest: "Man muss für seine Positionen kämpfen, auch wenn man nicht sicher ist, ob man gewinnt."  In dieser Überzeugung zur Pflicht in der politischen Verantwortung stellte er sich - auch in zum Teil aussichtsloser Lage - seiner Partei zur Verfügung.

Vogel appellierte an den BLLV: Erziehung zu demokratischem Bewusstsein und Handeln muss ein durchgehendes Bildungsprinzip sein 

Hans-Jochen Vogels leidenschaftlicher Einsatz für eine starke Demokratie gründet in seiner Erfahrung mit dem Menschen verachtenden, totalitären Nazi-Regime. Gemeinsam mit dem BLLV setzte er starke und bleibende Zeichen. So forcierte er 1955 im besagten "Montagskreis" die Idee zur Gründung der "Akademie für politische Bildung" in Tutzing. Diese Institution sieht bis heute ihre Aufgabe darin, "auf überparteilicher Grundlage das Gedankengut der freiheitlich-demokratischen Staatsordnung im Bewusstsein der Bevölkerung zu befördern und zu festigen."  Dabei richtete sich das Augenmerk damals vor allem auf die Lehrerweiterbildung. Dieses Anliegen der politischen Bildung verstärkte Hans-Jochen Vogel 1993 als Mitbegründer und Vorsitzender der Vereinigung "Gegen Vergessen – Für Demokratie".

Hans-Jochen Vogel gehörte 2015 auch zu den Erstunterzeichnern des BLLV- Manifests "Haltung zählt!". In diesem bekräftigt unser Verband angesichts zunehmender Hass- und  Diskriminierungsattacken gegen andersartige und fremde Menschen die demokratischen Werte demonstrativ und ruft auf zu Respekt und Toleranz. An diesen Appell knüpfte 2017 eine Einladung Vogels an BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann und mich zu einem intensiven Gespräch in seinem Alterssitz an. Dieses Gespräch hatte er – wie es seine Gewohnheit war – mit einem Stapel historischer und aktueller Dokumente akribisch vorbereitet. Vogel trieb sichtlich die Sorge um unsere Demokratie um, deren grundlegenden Werte er durch Populisten und Rechtsradikale gefährdet sah. Er appellierte an uns, dass Erziehung zu demokratischem Bewusstsein und Handeln ein durchgehendes Bildungsprinzip sein müsse und dass dabei der Schule und Lehrerschaft eine Schlüsselrolle zukomme. Noch 2018 bestätigte er dem BLLV, dass dieser  "nicht nur die eigenen beruflichen Anliegen im Auge hat, sondern eben auch die allgemeine Entwicklung, die Demokratie und die politische Bildung im Auge behält und ernst nimmt. Und dies tut er gegenwärtig in überzeugender Weise."

Der BLLV verneigt sich vor einem großen Politiker und einer außergewöhnlichen Persönlichkeit

Hans-Jochen Vogel erfuhr immer auch von politischen Kontrahenten hohen Respekt. Er war unerschütterlich in seiner Überzeugung. Er zeichnete sich aus durch Augenmaß und Pflicht. Er war von größter Glaubwürdigkeit und menschlicher Integrität. Er galt im Politikbetrieb Deutschlands als  moralische Instanz. Als man ihm wegen seiner brillanten intellektuellen Schärfe, seiner Disziplin und seiner "pedantischen Lust" als "Oberlehrer" apostrophierte, nahm er diese abwertend gemeinte Zuschreibung nicht nur gelassen hin, sondern wendete sie ins Positive: "Warum nicht?" entgegnete er, "dieser Beiname ist durchaus ehrenvoll!".

Nun ist unser Ehrenmitglied Hans-Jochen Vogel im Alter von 94 Jahren verstorben. Seine Stimme in grundlegenden Fragen wird fehlen. Der BLLV verneigt sich vor einem großen Politiker und einer außergewöhnlichen Persönlichkeit. Unser Verband steht in der Pflicht, weiterhin für die Grundanliegen Hans-Jochen Vogels einzutreten: Für soziale Gerechtigkeit und für die Stärkung unserer Demokratie.

>> zum Kondolenzschreiben von BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann

 

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