Grundlagen

Risikogruppe mit Chance auf persönliche Erfüllung

Trotz vieler Warnungen und Vorbehalte sind Gesundheit und Lehrerberuf nicht zwingend ein Widerspruch, denn die pädagogische Arbeit bietet auch Ressourcen, die zum Erhalt von Motivation, Zufriedenheit und Gesundheit im Arbeitsleben beitragen:

  • Gelegenheit zu produktivem Austausch und Zusammenarbeit
     
  • Vielseitigkeit der Aufgaben
     
  • Methodische und inhaltliche Gestaltungsspielräume
     
  • Möglichkeiten kontinuierlicher Weiterentwicklung und Professionalisierung
     
  • Sinnhaftigkeit der Arbeit
     

Belastungen reduzieren, Gesundheits-Potenziale erschließen

Also doch alles nur halb so schlimm und lediglich Gejammer auf hohem Niveau? Nein, auch wenn Lehrkräfte diesem Vorurteil immer noch begegnen. Die hier aufgeführten Belastungen existieren, sind hoch und müssen künftig reduziert werden, damit Lehrerinnen und Lehrer ihren zunehmenden beruflichen Anforderungen  gerecht werden können. Zudem sind die Möglichkeiten, die genannten Ressourcen im Arbeitsalltag individuell zu nutzen, noch lange nicht ausreichend erschlossen.

Beides sollte nicht nur Anliegen der Lehrkräfte sein, denn die negativen Folgen wirken sich auf den Unterricht und damit auf Schülerinnen und Schüler aus. Für die Gesellschaft von heute und morgen mit ihren vielfältigen Herausforderungen und rasanten Veränderungen sind Bildung und Innovationskraft entscheidend. Dafür braucht es gesunde und damit leistungsfähige und motivierte Pädagoginnen und Pädagogen.  

Anspruch und Ressourcen ausbalancieren

Wie können Lehrkräfte ihre beruflichen Anforderungen und ihre eigenen Ressourcen also erfolgreich in Balance bringen? Welche Rahmenbedingungen tragen dazu bei, dass sie sich in ihrem Beruf engagieren und dabei auf Dauer gesund bleiben? Wie hängen Spannkraft und Unterrichtsqualität zusammen?

Die aktuelle empirische Forschung zum Lehrerberuf setzt genau hier an. Dazu gehört das mehrjährige Projekt Gesundheitsvorsorge an Schulen in Bayern, eine Kooperation der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Aufgabe der Forscherinnen und Forscher war, ein geeignetes Modell für die spezifischen Erfordernisse des betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) an Schulen zu entwickeln.

Schulleitungen als Schnittstellen zwischen Politik, Gesellschaft, Lehrkräften und Schule

Das sogenannte Dienststellenmodell schnitt am besten ab: Dabei übernehmen die Schulleiter/innen oder von ihnen Beauftragte die Aufgaben des Arbeitsschutzes vor Ort. Das bedeutet nicht, dass allein der Schulleitung Aufgaben und Verantwortung zugeteilt werden. Vielmehr liegt diesem Modell des betrieblichen Gesundheitsmanagements ein ganzheitlicher Ansatz zugrunde: Er umfasst die von Politik und Gesellschaft geprägten Rahmenbedingungen, das Potenzial der einzelnen Schule sowie die Möglichkeiten der individuellen Lehrkraft. Dafür bildet die Schulleitung die notwendige Schnittstelle. Die Aufgabe der Beratung und Qualitätssicherung übernimmt dabei das neue arbeitsmedizinische Institut am Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL), das im August 2018 gegründet wurde.

Mit dieser Einrichtung wird eine langjährige Forderung des Hauptpersonalrats umgesetzt – ein Erfolg des langjährigen Engagements des BLLV gemeinsam mit seinem Dachverband, dem Bayerischen Beamtenbund (BBB). Erste Werkstattgespräche fanden bereits im Frühjahr und Herbst 2019 statt. BLLV Präsidentin Simone Fleischmann hob dabei besonders hervor, welche umfassende Bedeutung die Einführung eines systematischen und professionalisierten BGM für bayerischen Schulen hat.

Angesichts des Lehrermangels an Grund-, Mittel- und Förderschulen ist nicht zu erwarten, dass die Situation kurzfristig besser wird. Umso wichtiger, dass wir Lehrerinnen und Lehrer gesund sind und bleiben können.

Die Politik kommt an diesem existenziell wichtigen Thema nicht mehr vorbei. Wir freuen uns sehr über die zugesagte Unterstützung und werden weiterhin eng kooperieren. Denn eines ist sicher: Der BLLV bleibt dran!

Proaktive gesundheitsfördernde Gestaltung statt bloßer Unfall-Vermeidung

Die Modelle des BGM werden derzeit vor allem als Reaktion auf den demografischen Wandel und die Veränderungsprozesse im Bereich von Arbeits- und Organisationsstrukturen entwickelt. War es für den traditionellen Arbeitsschutz noch oberste Priorität, Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten zu vermeiden, so rückte mit der modernen Gesundheitsförderung die gesundheitsgerechte Gestaltung der Arbeitswelt in den Mittelpunkt.

Darüber hinaus wird mit dem BGM ein Gleichgewicht zwischen individuellen Ressourcen und alltäglichen Belastungen angestrebt. Gesundheitsförderung wird verstanden als Vernetzung verschiedener Faktoren mit dem Ziel der Verbesserung der Arbeitsabläufe, der Arbeitsbedingungen, der Förderung des aktiven beruflichen Engagements, der Stärkung der persönlichen Kompetenzen in Gesundheitsfragen und auch der außerschulischen gesundheitsgerechten Lebensgestaltung.

Gesundheitsförderung als Ergebnis komplexer wechselwirkender Prozesse

Demensprechend besteht das BGM nicht aus Einzelmaßnahmen, sondern in der Initiierung von komplexen und damit auch veränderlichen Prozessen, so dass es kein einheitliches Referenzmodell gibt, das einfach an Schulen Anwendung finden könnte. Die Erkenntnis darüber, welche Faktoren von Bedeutung sind und in welchen Wechselwirkungen sie untereinander stehen, ist das Ergebnis langjähriger sozial- und arbeitsmedizinischer Forschung zum Lehrerberuf. Der BLLV hat diesen Prozess von Anfang an aktiv begleitet und seine Mitglieder mit Veröffentlichungen, Fachtagungen und Fortbildungsveranstaltungen stets aktuell informiert.

Die in diesem Zusammenhang diskutierten Positionen zeigen, wie sich die ressourcenorientierten Perspektiven des BGM, die bei den individuellen Stärken einer Person ansetzen und dabei auch die Fragen nach dem Umgang mit Belastungen und Stress integrieren, entwickelt haben:

Stand der Forschung

Der Verdienst empirischer Studien war zunächst, die vielfache und hohe Beanspruchung durch die Lehrertätigkeit zu konstatieren, und nachzuweisen, dass sich im Vergleich zu anderen Berufen kritische Rahmenbedingungen finden, die sich oft in psychischen und psychosomatischen Erkrankungen auswirken.

Dass dies ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellt, betonte Andreas Weber als Facharzt für Arbeitsmedizin an der Universität Erlangen in einer alarmierenden Studie von 2001. Demnach lag der damalige Anteil der Lehrkräfte an krankheitsbedingten vorzeitigen Pensionierungen in Deutschland seit zehn Jahren zwischen 50 % und 60 % – mit weitreichenden gesellschaftlichen, volkswirtschaftlichen und sozialmedizinischen Konsequenzen. Noch im selben Jahr berichteten er und sein Team darüber im BLLV-Verbandsmagazin Bayerische Schule.

Von der Belastung zur Stärkung

Für Weber und Experten aus Psychologie, Sozial- und Arbeitsmedizin sowie Soziologie stellte sich daher zunächst die Aufgabe, die für diese Entwicklung maßgeblichen (sozial-)medizinischen, gesellschaftlichen, normativ-rechtlichen Voraussetzungen zu ermitteln, die im Schulsystem als belastend zusammenwirken. Als Konsequenz fordert Weber, dass „die Entwicklung, Implementierung und Bewertung problemorientierter Präventions- und Interventionsstrategien vorangetrieben werden“. Damit richtet sich der Blick über die Untersuchung belastender, krank machender Einflüsse hinaus auch auf die Erforschung von Möglichkeiten, die Gesundheit und Leistungsfähigkeit zu stärken und zu erhalten.  

Diesen Ansatz verfolgte auch Uwe Schaarschmidt, Psychologie-Ordinarius der Universität Potsdam,  in einer umfangreichen Untersuchung, die im Jahr 2000 im Auftrag des BLLV-Dachverbands „DBB Beamtenbund und Tarifunion“ startete. Fast 16.000 Lehrkräfte wurden befragt, unter anderem zu arbeitsbezogenen Verhaltens- und  Erlebensmustern. Dieser Forschungsansatz ermöglichte die Kategorisierung von Verhaltenstypen, die sich durch das Ausmaß von Arbeitsengagement, Widerstandsfähigkeit und arbeitsbezogenem Wohlergehen unterscheiden und damit auch in ihrem Risiko für psychische und physische Erkrankungen. Die Auswertung ergab vier Grundmuster:

  • G: Stärkeres (aber nicht überhöhtes) berufliches Engagement, psychische Widerstandskraft gegenüber den Belastungen des Berufsalltags, Zufriedenheit und Wohlbefinden
     
  • S: Tendenz zur Schonung bzw. zum Schutz gegenüber den Arbeitsanforderungen
     
  • A: Anstrengung, überhöhte Verausgabungsbereitschaft bei Vernachlässigung des Erholungsbedarfs
     
  • B: Resignation und Erschöpfung
     

Ressourcen entfalten, Resilienz entwickeln

Die Typen A und B stellen dabei Risikomuster dar. In ihnen kommen gesundheitsgefährdende Entwicklungen bzw. schon vorliegende gesundheitliche Beeinträchtigungen zum Ausdruck. Auf der Basis der vorgefundenen Musterverteilungen, die ein überdurchschnittliches Vorkommen der Gruppen A und B aufwies, konnte einerseits auf mangelnde Ausgewogenheit zwischen Anforderungen und Ressourcen, besonders in der Berufsgruppe der Lehrerinnen und Lehrer, geschlossen werden.

Der Blick auf den Typ G zeigt andererseits, dass die Fähigkeiten, mit Fehlern und Misserfolgen offensiv umzugehen, eine angemessene Distanz zur Arbeit zu halten und innerlich gelassen zu bleiben, den Umgang mit Belastung und Stress erheblich erleichtern. Gestärkt werden muss dementsprechend die Möglichkeit der Lehrkräfte, eigene Ressourcen im Schulalltag überhaupt zu entfalten, bewusst einzusetzen und Engagement mit Widerstandsfähigkeit zu verbinden.

Konkrete Umsetzung vor Ort

Über die Unterstützung individueller Ressourcen hinaus geht Schaarschmidt der Frage nach, was Schulleitung und Kollegium vor Ort an zusätzlicher Unterstützung benötigen, um Arbeitsverhältnisse gesundheitsfördernder zu gestalten. In einem Interview mit der Bayerischen Schule verweist er auf gemeinsame Belastungsbewältigung auf der Ebene der einzelnen Schule als ein großes und noch zu wenig genutztes Potential.

Die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen im Schulalltag stellt auch der Freiburger Arzt und Psychotherapeut Joachim Bauer neben der inneren Einstellung zur Arbeitsbelastung in das Zentrum seiner Forschung.  Drei entscheidende Ansatzpunkte für therapeutische Hilfestellungen, sowohl im Bereich der Prävention als auch im Bereich der Therapie nennt er in einem Beitrag für die Bayerische Schule.

  • Die Beziehung zu Schüler/innen
     
  • Die Zusammenarbeit bzw. Konflikte mit Eltern
     
  • Der Zusammenhalt im Lehrerkollegium bzw. mögliche Spaltungen
     

Beziehungskompetenz vermitteln, Achtsamkeit steigern

Von Lehrkräften ist demnach ein hohes Maß an Beziehungskompetenz gefordert, dem bereits die pädagogische Ausbildung Rechnung tragen sollte, um bestmögliche Voraussetzungen zu schaffen. Nur so lässt sich Bauer zufolge Überforderung im Schulalltag vermeiden.

Einigkeit besteht in den skizzierten Forschungsansätzen darüber, dass die gesundheitsgefährdenden Belastungen in Schulen vielfältig und durch gemeinsames Engagement und größere Achtsamkeit zu vermeiden oder zu erleichtern sind.

Schulsystem, Lehrkräfte und einzelne Schulen müssen positiv zusammenwirken

Mit der fortschreitenden und zunehmend differenzierteren Forschung zur Lehrergesundheit haben sich für die aktuelle Diskussion um das BGM an Schulen drei zentrale Faktoren mit entscheidendem Einfluss herausgebildet:

  • Das Schulsystem als Ganzes, über das die Rahmenbedingungen für den Beruf in hohem Maße vorgegeben werden
     
  • Die einzelne Lehrkraft, die sich in diesem Umfeld bewähren muss mit individuellen Voraussetzungen wie Alter, Geschlecht, Bewältigungsstrategien
     
  • Die einzelne Schule, in der das Kollegium und die Schulleitung den Arbeitsalltag gestalten

Diese Faktoren wirken nicht isoliert, sondern bedingen einander und sind systemisch miteinander verbunden. Die Betrachtung der Verhältnisse (Schulsystem) muss also eine Veränderungsanalyse der Verhaltensmuster (Lehrkraft, Schule) einschließen, um Ursachengefüge in den Blick zu nehmen.

Bei der Schulleitung läuft alles zusammen – Überforderung vermeiden!

Dies hat entscheidenden Auswirkungen auf die Konzeption, Planung und Durchführung von Präventions- und Interventionsmaßnahmen, wie sie das BGM vorsieht. Denn würden lediglich schwerpunktmäßige einzelne Problembereiche aufgegriffen, würde das diesem Ansatz nicht gerecht. Das BGM setzt bei der Prävention vor krankmachenden Einflüssen und der Unterstützung der Gesundheitsförderung zum einen auf die Eigenverantwortung der Einzelnen, nimmt aber zum anderen auch ganz wesentlich den Dienstherrn bzw. Arbeitgeber und Führungskräfte in die Pflicht.

Der Schulleitung kommt damit, wie bereits erwähnt, eine zentrale Rolle zu, weil komplexe Präventions- und Interventionsmaßnahmen an die jeweilige Einzelschule angepasst werden müssen, um ihr Potenzial wirksam zu entfalten.

Schulleiterinnen und Schulleiter sind damit an einer wichtigen Schnittstelle zwischen strategischer Steuerung und individueller Umsetzung und damit sind sie selbst einer hohen Belastung ausgesetzt. Diese muss bei der Konzeption und Umsetzung entsprechender Maßnahmen berücksichtigt werden.

Kollegium und Schulleitung zu gesundheitsfördernder Gestaltung motivieren

Darüber hinaus hängt das Gelingen der Maßnahmen aber auch nicht allein von ihnen ab: Gesundheitsförderung, wie sie in aktuellen Modellen der BGM vorgesehen ist, wird gleichermaßen eine Aufgabe von Schulleitung und Lehrkräften sein.

Das bedeutet einerseits eine gemeinsame Anstrengung, aber auch die Chance einer gemeinsamen aktiven Gestaltung der beruflichen Beanspruchungsverhältnisse. Diese freiwillige Kooperation von Schulleitung und Lehrerkollegium wird nur auf der Basis von Überzeugung und der damit verbundenen Motivation gelingen.

Betriebliches Gesundheitsmanagement als Prozess

Wie können also gesundheitsfördernde Maßnahmen und Prozesse in der Schule initiiert und gestaltet werden, damit sie erfolgreich und nachhaltig sind? Es wird sicher noch viel Diskussionsbedarf um neue Ziele und Strukturen geben. Sicher ist aber:

  • Die erforderlichen Einstellungs- und Verhaltensänderungen bei allen Beteiligten verlangen  Zeit, denn der Prozess eines BGM muss in die bestehenden Strukturen und in die Arbeitsabläufe der Lehrkräfte und Schulen, der Staatlichen Schulämter und des Ministeriums für Unterricht und Kultus integriert werden.
     
  • Gerade Lehrerberufe erfordern eine qualifizierte Konzeption von Maßnahmen, die den Besonderheiten und der Vielseitigkeit dieses Berufes gerecht wird.
     
  • Ein solches Konzept für eine nachhaltige und spezifische Gesundheitsförderung, die auf Achtsamkeit und Wertschätzung basiert, korrespondiert mit den aktuellen Bemühungen zur Qualitätsentwicklung in Schulen, denn:

Gute Schulen brauchen gesunde Lehrkräfte!