Trauma bei Flüchtlingen: Wie Lehrkräfte damit umgehen können

Mindestens jedes dritte geflüchtete Kind ist traumatisiert, die Dunkelziffer dürfte weit höher sein. Lehrkräfte sind auf solche Schüler nicht vorbereitet. Wie sie den Kindern und sich selbst helfen können, erklärt Traumaforscher Prof. Dr. Willi Butollo*.


Mediziner der TU München diagnostizierten unlängst im Rahmen einer Studie bei 22 Prozent der syrischen Flüchtlingskinder eine posttraumatische Belastungsstörung, bei weiteren 16 Prozent zumindest Anzeichen davon. Sind diese Zahlen realistisch?

Prof. Butollo: Mir scheinen sie eine Unterschätzung zu sein. Mich würde interessieren, ob im Rahmen der Studie nur die Leitsymptome der postraumatischen Belastungsstörung untersucht worden sind oder auch weitere allgemeine Anzeichen wie sozialer Rückzug oder Konzentrationsstörungen. Die sehr eng gefasste Definition der Posttraumatischen Belastungsstörung berücksichtigt diese nicht, wenn sie nicht mit anderen Symptomen zusammen auftreten. Insofern gehe ich davon aus, dass weit mehr Kinder unter den psychischen Folgen von Flucht und Krieg leiden.


Woran erkenne ich, dass ein geflüchtetes Kind an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet?

Prof. Butollo: Das ist nicht so einfach, denn tendenziell verstecken die Kinder die Anzeichen. Es gibt drei Arten von Leitsymptomen: eine chronische Übererregung, das Bewusstsein dominierende Erinnerungen und starke Vermeidungstendenzen allen Situationen gegenüber, die diese Erinnerungen auslösen könnten. Damit einhergehen Angstattacken und Konzentrationsstörungen. Die Kinder sind gewissermaßen immer auf dem Sprung, weil sie ständig etwas Schlimmes erwarten, sie verhalten sich defensiv, weinen schnell und können sich nicht konzentrieren. Sie sind kaum in der Lage, dem Unterricht zu folgen oder können Gemeinschaftsübungen nicht mitmachen, weil sie sich sofort überlastet fühlen.


Schon ein kleines Ereignis, etwa ein Knall durch einen umfallenden Gegenstand, könnte also ein Kind verängstigen?

Prof. Butollo: Genau. Das wäre ein spezifischer Trigger für eine Panikattacke oder für eine dissoziative Reaktion, das heißt, das Kind ist plötzlich wie weggetreten und reagiert nicht mehr, wenn es angesprochen wird. Die drei Leitsymptome sind im Grunde Bewältigungs- und Schutzversuche, die aber über das Ziel hinausschießen. Zwanghaft auftretende Erinnerungen an schlimme Ereignisse sollen eine Art Gewöhnung gewährleisten, führen aber, da die Belastung noch zu stark ist, zum dritten Leitsymptom, die undifferenzierte Vermeidung. Traumatisierte Kinder vermeiden alles, was irgendwie belastend wirken und schlimme Erinnerungen auslösen könnte. Die sicherste Methode, das zu vermeiden, scheint für das Kind zu sein, sich sozial völlig zurückzuziehen. Von anderen Kindern werden sie dadurch bald links liegen gelassen, von Lehrkräften ignoriert, weil sich diese nicht ständig mit dem Kind beschäftigen können.
 

Wie sollen Lehrkräfte dann mit traumatisierten Kindern umgehen?

Prof. Butollo: Ich rate dringend dazu, das Kind nicht aktiv auf seine traumatischen Erinnerungen anzusprechen, außer es fängt von sich aus an, davon zu reden. Von außen übergestülpt kann der Versuch, die Erlebnisse aufzuarbeiten, zur Retraumatisierung führen. Es ist besser sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und auf das, was das Kind jetzt gut kann.

Es geht also darum das Vertrauen des Kindes in die eigenen Fähigkeiten und sein Selbstwertgefühl zu stärken?

Prof. Butollo: Absolut. Das Gefühl kompetent zu sein ist ein unglaublich wichtiger Schutzfaktor gegen Posttraumatische Belastungsstörungen. Lehrkräfte sollten einem Kind zeigen, dass es Kompetenzen und Ressourcen hat, diese verstärken und herauslocken. Die Schule ist ein hervorragender Ort, um den Kindern in kleinen Schritten diese Kompetenzerfahrungen zu vermitteln. Sie können ihre Fortschritte selbst wahrnehmen, und sie bekommen die Anerkennung von Lehrkräften und Klassenkameraden.


Sollte man in der Klassengemeinschaft thematisieren, dass das Kind unter Belastungen leidet?
 

Prof. Butollo: Ich glaube, es ist gut anzuerkennen, dass das Kind Belastungen hatte, dass es diese gut bewältigt hat und jetzt hier in Sicherheit ist. Die Bewältigung sollte im Vordergrund stehen, weniger die Erinnerung an das belastende Ereignis. Die Kinder wollen in einem neuen, sicheren Umfeld möglichst schnell wieder neu anfangen, möglichst nicht als Fremde und Traumatisierte stigmatisiert werden und „normale“ Mitglieder der Klassengemeinschaft werden.

Dennoch kann es vorkommen, dass ein Kind mich mit seinen Erlebnissen konfrontiert. Das kann belastend sein. Wo kann ich mir selbst Unterstützung holen?

Prof. Butollo: Ja, es ist sehr belastend, wenn man darüber mit einem Kind sprechen muss und dabei seine eigene Ohnmacht erlebt. Eine Möglichkeit damit besser klar zu kommen wäre, sich unter Kollegen auszutauschen, jemanden darum zu bitten, mit ihm oder ihr darüber sprechen zu dürfen. Die zweite wären Supervisionsgruppen speziell für Lehrkräfte mit traumatisierten Kindern in der Klasse, wenn sie angeboten werden. Dort kann man sich austauschen, die eigenen Gefühlen wahrnehmen, benennen und mitteilen. Eine Hilfestellung soll die gemeinsam von BLLV und MIT angebotene, Fortbildung für Lehrer und Lehrerinnen zum Thema Trauma bieten, die nachhaltig organisierte Netzwerke von interessierten Lehrern fördert. Sind die Belastungen zu groß, sollte man auch eine Psychotherapie erwägen. Ich möchte Lehrerinnen und Lehrer dazu ermutigen, sich nicht zu scheuen, eine solche Möglichkeit in Anspruch zu nehmen und damit nicht so lange zu warten, bis es gar nicht mehr geht. 

 

*Prof. Dr. Willi Butollo (1944) studierte in Klagenfurt Lehramt für Grundschule und anschließend Psychologie an der Universität Wien. Nach Promotion und Habilitation arbeitete er an der Universität London und erhielt 1973 einen Ruf an den Lehrstuhl für Klinische Psychologie an der LMU in München, den er bis zu seiner Emeritation im Jahr 2013 inne hatte. Butollo entwickelte am Münchener Institut für Traumatherapie aufbauend auf Elementen der Verhaltens- und der Gestalttherapie die Integrative Therapie für die Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen.