Elterngespräche: Vorsicht Fettnäpfchen

Konflikte und Missverständnisse zwischen Menschen unterschiedlicher Kultur, Herkunft und Religion gehören zum Alltag. In der Schule treten diese Konflikte aufgrund unterschiedlicher Sozialisation besonders in der Kommunikation zwischen Lehrern und Schülern und insbesondere im Lehrer-Elterngespräch auf.

von Manfred Schreiner*

Damit diese Missverständnisse nicht auf Dauer das Zusammenleben stören sollte man die wichtigsten hier relevanten Ursachen und Spielarten kennen und Strategien zur Konfliktlösung anwenden können. Um hier nicht missverstanden zu werden, es geht hier nicht darum, jegliches Verhalten zu tolerieren, es geht darum, Menschen unterschiedlicher Prägung zu einem möglichst konfliktfreien Zusammenleben zu befähigen.

Bestellen Pfälzer in Unterfranken im Wirtshaus einen Schoppen Wein fühlen sie sich aufgrund der Tatsache, dass ein Pfälzer Schoppen einen halben Liter bedeutet, der fränkische Schoppen aber nur einen viertel Liter, betrogen. Ein harmloser interkultureller Konflikt aufgrund unterschiedlicher Sozialisation, der durch ein klärendes Gespräch und einen Schuss Humor sehr schnell gelöst werden kann. Zum Trost für alle: Die meisten Konflikte auch mit Muslimen anderer Ethnien können mit Gespräch und Lächeln gelöst werden. Gegenseitige Aufklärung über das was gemeint ist hilft in der Regel weiter.

 

Zeigt er den Vogel, oder meint er "Köpfchen, Köpfchen"?

So gibt es z.B. immer wieder Konflikte zwischen Deutschen und Ausländern bei der Geste "mit dem Zeigefinger an die Schläfe klopfen". Bei uns will man mit dieser Geste jemanden den "Vogel zeigen", also dummes Verhalten missbilligen, bei uns kann diese Geste, auch als Autofahrergruß bezeichnet, wegen Beleidigung bestraft werden.

Nun zeigt ein türkischer Schüler muslimischen Glaubens dem Lehrer mitten im Unterricht den Vogel. Der Lehrer ist beleidigt und reagiert mit einem Verweis. Hätte er gewusst, dass diese Geste im Herkunftsland des Schülers bedeutet "Köpfchen, Köpfchen, du bist schlau, also ein Kompliment für ein besonders intelligentes Verhalten ist, hätte die Lehrkraft wahrscheinlich anders reagiert.

Fettnäpfchen Körpersprache

Man kann nun unmöglich alle verschiedenen körpersprachlichen Bedeutungen anderer Länder auswendig lernen, z.B. dass die Zunge rausstrecken in China und Japan zur höflichen Kommunikation gehört, dass das Hochstrecken der beiden Daumen in Europa "super gut" bedeutet, in Asien aber Hinweis auf homosexuelles Verhalten ist, man mit gestrecktem Zeigefinger und gestrecktem Daumen im europäischen Biergarten noch 2 Bier bestellt, in Japan dafür aber 6 Glas Bier erhält. Diese Beispiele sind oft amüsant und werden in unzähligen Ratgebern veröffentlicht und verkauft, helfen aber in der Schule nicht weiter.

Besser man ist in der Deutung körpersprachlicher Kommunikation vorsichtig und fragt im Zweifelsfall einfach nach. Merkt man, dass die eigene Körpersprache dem Partner offensichtlich missfällt, kann man wiederum selbst die Bedeutung der Geste erklären.

Bei folgenden Gesten können Missverständnisse programmiert sein:

  • "Schau mir in die Augen, wenn du mit mir redest" - Sich in die Augen schauen ist bei vielen Muslimen verpönt, bei Menschen unterschiedlichen Geschlechts könnte es als sexuelle Aufforderung gedeutet werden. Hinzu kommt, dass viele Muslime Angst vor dem bösen Blick haben. Als Lehrkraft ist es besser, dem Schüler statt in die Augen über die Schulter zu schauen.

  • mit dem gestreckten Zeigefinger auf jemanden deuten - Der gestreckte Zeigefinger gilt als beleidigend, höflich deutet man mit zwei Händen. 

  • über den Kopf streichen - Das vermeintliche Lob kann als koloniale Geste verstanden werden. Nimmt man dazu auch noch die linke Hand, ist die Beleidigung programiert: die linke Hand gilt in muslimischen Kontexten als unreine Hand zur Entsorgung.
Gott gab euch die Uhr, uns die Zeit

Gott gab uns die Zeit, euch die Uhr, sagen Muslime zu westlich sozialisierten Menschen und drücken damit aus, dass es zeitbewusste Gesellschaften (Nordeuropa, Nordamerika, Australien) und zeitvergessene Gesellschaften (Asien außer Japan, Afrika und Südamerika) gibt.

In Europa betrachten wir die Zeit linear, sie läuft ab, sie ist kostbar und kann verschwendet werden. Muslime betrachten Zeit zyklisch, sie wiederholt sich immer, ist laufend vorhanden und kommt immer wieder. Wir betrachten Zeit als Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft, Muslime sehen Zeit als ewiges Geschehen ohne Anfang und ohne Ende.

Für uns ist die Zeit knapp, sie ist ein kostbarer begrenzter Rohstoff, den man nicht verschwenden darf, wird die Zeit nicht genutzt ist sie unwiederbringlich verloren. Für Muslime ist Zeit im Überfluss vorhanden, eine Quelle, die nie versiegt, man kann sie nie verlieren, sie ist immer da.

Für uns gilt, time is money, für Muslime gilt, Zeit kostet nichts und steht arm und reich kostenlos zur Verfügung. Bei uns diktiert der Terminkalender das Geschehen, Muslime wollen unabhängig vom Zeitpunkt immer für eine gute Beziehung von Mensch zu Mensch sorgen.

Ein Phänomen: die Januarzwillinge aus Anatolien

In dieses Kapitel passt auch das in vielen Schulen bekannte Phänomen des nicht eindeutigen Geburtsdatums von manchen Kindern aus Anatolien. Immer wieder erzählen Schulen von "Januarzwillingen". Kinder, die offensichtlich verschiedenen Alters sind und aus ein und der selben Familie stammen, sind laut Passeintrag beide am 1. Januar des gleichen Jahres geboren.

Das kommt daher, dass in Anatolien geborene Kinder in der Kreisstadt angemeldet werden müssen. Zwischen Anmeldung der Geburt und wirklichem Geburtsdatum liegen oft Monate oder gar Jahre. Das richtige Geburtsdatum ist den Eltern bei der standesamtlichen Anmeldung oft gar nicht mehr bekannt und so legt der beurkundende Beamte der Einfachheit halber den 1. Januar des gleichen Jahres für alle fest.

Dagegen erhebt keiner Protest, da man weiß, dass jeder erwachsene Türke einmal in seinem Leben sein Geburtsdatum amtlich ändern lassen darf. Für uns ein Schlendrian ersten Ranges, für den Muslimen kein Problem, lebt er doch in der ewigen Gemeinschaft aller Muslime, das eigene Geburtsdatum ist hier bedeutungslos.

Türkisches Sprichwort: Sprich Gutes oder schweige

Für Muslime galt traditionell: Erziehung ist Gehorsam, Unterricht ist auswendig lernen. So kommen sie oft mit unserer Pädagogik nicht klar. Türkische Didaktik heißt, ein Text steht an der Tafel, der gleiche Text steht im Buch, wird abgeschrieben und auswendig gelernt. Die türkischen Eltern klagen über die deutsche Schule: Dort wird nichts gelernt, in der Schule wird sogar gesungen und getanzt und die Schüler dürfen sogar dem Lehrer widersprechen. Hier müssen die Schulen aufklären und in besonderen Veranstaltungen und mit besonderen Programmen die Eltern über die Schule hier aufklären.

Bei uns steht das ICH im Mittelpunkt, bei Muslimen das WIR. Wir huldigen dem Individualismus, Muslime dem Kollektivismus. Wir definieren unsere Identität aus uns selbst, Muslime aus ihrer Geborgenheit in der Gemeinschaft, uns geht es um Unabhängigkeit, den Muslimen um Zugehörigkeit, uns um Selbstbestätigung, jenen um die der Familie. Wir suchen Ergebnisse über Abstimmung, Muslime über Konsensfindung durch Verhandlungen bei der keiner sein Gesicht verlieren darf. Wir haben nichts gegen eine sachliche Auseinandersetzung, Muslime trachten nach Harmonie. Türkisches Sprichwort: „Sprich Gutes oder schweige!“

Bei uns ist der Sachverhalt wichtiger als die Beziehung, bei Muslimen umgekehrt. Wir wollen, dass nur die Leistungen Zugänge schaffen, Muslime denken, man kann nur über Beziehungen aufsteigen. Für uns steht die Aufgabe im Vordergrund, für Muslime die Person, uns geht es um Sachkompetenz und Logik, Muslimen um eine gute Beziehung und Vertrauen. Wir suchen Argumente, Muslime Loyalität.

Für den Umgang mit Muslimen gilt daher, in der Begegnung erst ein eine gute Beziehung aufbauen (die berühmte Tasse Kaffee) und dann erst zur Sache kommen. Lehrer/innen müssen wissen, dass Kritik am Kind als Ehrverlust für die ganze Familie betrachtet werden kann. Sie müssen auch wissen, dass Familie mehr ist als Eltern und Kinder, sondern die ganze Verwandtschaft dazu gehört.

Deutsch-türkischer Elternabend

Sich gegenseitig kennen lernen hilft weiter. Je besser man den anderen kennt, umso besser kann man mit ihm umgehen. Schulen sollten deshalb kontinuierlich Begegnungen mit Muslimen organisieren. Informeller Austausch bringt hier oft bessere Ergebnisse als lernzielorientierte Beschulung. So hat eine Nürnberger Schule einen kulinarischen Abend der Begegnung organisiert, wo mit in- und ausländischen Spezialitäten die Besucher verwöhnt wurden und dabei viel über den anderen erfahren werden konnte.

*Zur Person

Manfred Schreiner, ehemaliger Schulleiter, leitete von 1987 bis 2009 das Amt für Volks- und Förderschulen der Stadt Nürnberg und ist seit 1980 Lehrbeauftragter für interkulturelle Pädagogik an der Universität Erlangen-Nürnberg.

Er ist Ehrenmitglied des BLLV und hat in seiner Eigenschaft als BLLV-Integrationsbeauftragter das Thema "Islamischer Unterricht" über Jahre hinweg betreut, und damit wesentlich zu dessen Etablierung an den bayerischen Schulen beigetragen.