BLLV fordert: Ehrlichkeit und Transparenz statt falscher Erwartungshaltungen
Die Gesellschaft hat hohe Erwartungen an das neue Schuljahr. Inwieweit sie realistisch sind, klärt der BLLV bei der Pressekonferenz "Jetzt mal ehrlich – Diesen Fragen müssen wir uns alle stellen!". Schulen stehen vor zahlreichen Herausforderungen.
So wie Schülerinnen und Schüler derzeit in den Klassenzimmern sitzen, einzeln, mit Abstand und auf klassischen Frontalunterricht ausgerichtet, so nehmen auch Journalistinnen und Journalisten zur Pressekonferenz des BLLV zum Schuljahresende Platz. Als Präsidentin Simone Fleischmann vor das Rednerpult tritt, brennt es ihr unter den Fingernägeln. Die Erwartungshaltungen in der Gesellschaft an den Schulstart im September seien hoch - und das sei auch berechtigt, sagt sie. "Was wir aber erwarten, sind Ehrlichkeit und Transparenz in der öffentlichen Diskussion", stellt Fleischmann klar. "Sonst fährt das Bildungssystem im September an die Wand."
Die BLLV-Präsidentin ist sich bewusst: Es ist eine ganz schöne Latte am Themen, die in der BLLV-Pressekonferenz "Jetzt mal ehrlich – Diesen Fragen müssen wir uns alle stellen!" beackert werden: Digitalisierung, Lehrerbildung, Mittelschule, individuelle Förderung, Bildungsverständnis und Bildungsgerechtigkeit. "Aber das sind eben die Themen, die jetzt die Schulen intensiv herausfordern", schildert Fleischman. "Deshalb müssen wir jetzt die Problemfelder benennen und können sie nicht einfachheitshalber auf einen prägnanten Punkt zusammenschmelzen, denn das ist einfach nicht die Realität der Schulen", stellt sie klar.
Professionelles Change-Management braucht Zeit
Simone Fleischmann sagt, sie habe schon häufig gehört: "Jetzt's gebt's halt mal ein bisschen Gas bis September!" Sie gibt aber zu bedenken, dass Schulen nicht auf Knopfdruck das ändern können, was die Politik beispielsweise in der Digitalisierung über Jahre verschlafen hat – und dass sie nicht plötzlich in den Sommerferien eine professionelle Verzahnung von Distanz- und Präsenzunterricht für das neue Schuljahr auf die Beine stellen können. "Professionelles Change-Management braucht Zeit!", betont Fleischmann.
Lehrkräfte wollen ihre Schülerinnen und Schüler auf das Leben von morgen vorbereiten - und eben nicht mehr nur mit Overhead-Projektoren hantieren. Das bestätigt auch die aktuelle BLLV-Umfrage "Schule und Corona 2020", für die Lehrkräfte und Schulleitungen in Bayern angeschrieben wurden (Details dazu im Infokasten unten): Über 60% der Befragten sagen, dass die digitale Kommunikation mit Schülern, Kollegen und Eltern auch nach Corona weiter ausgebaut und systematisiert werden muss. Für über 80% muss auch der Einsatz digitaler Medien weiter ausgebaut und zu einem festen Bestandteil von Unterricht werden.
Jetzt müssen in der Digitalisierung auf politische Versprechungen Taten folgen!
Ministerpräsident Markus Söder hat aus der Sicht von BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann auf seiner Pressekonferenz am 16. Juni ganz richtig festgestellt: Die Kommunen müssen die Gelder abrufen, außerdem ist eine System-Administration durch IT-Fachkräfte notwendig, die virtuelle Lernwelt darf keine Notfallunterrichtsmethode bleiben. Fleischmann fordert: "Jetzt müssen aber Taten folgen!" Auch die Aufnahme des Distanzunterrichts in die Schulordnung und die Ausstattung von Schülern mit digitalen Endgeräten unterstützt der BLLV, sagt Fleischmann.
Gerd Nitschke, 1. Vizepräsident des BLLV, berichtet, dass der Wegfall des Numerus Clausus für das Grundschullehramt die Universitäten überlastet. Außerdem habe die Maßnahme dazu geführt, dass nun Studenten aus dem Mittelschul-Lehramt in Richtung Grundschule wechseln. Das wiederum verstärke den ohnehin schon gravierenden Lehrermangel an Mittelschulen. "Letztlich wird der Lehrermangel bleiben, er wird nur verschoben", analysiert Nitschke. Zwei Maßnahmen könnten hier aber Abhilfe leisten: eine spätere Entscheidung für die jeweilige Schulart, wie es das BLLV-Modell der flexiblen Lehrerbildung vorsieht, und attraktive Arbeitsbedingungen wie etwa A13 als Eingangsbesoldung auch für Grund- und Mittelschullehrkräfte. Hier verweist Simone Fleischmann auf sieben Bundesländer, die das im Kampf gegen den Lehrermangel bereits umgesetzt haben.
Drei Viertel der Befragten mit Informationspolitik des Kultusministeriums nicht zufrieden
Als engagierter Schulleiter einer Mittelschule in Schweinfurt weiß Tomi Neckov, 2. Vizepräsident des BLLV, aus eigener Erfahrung, unter welchem Druck Schulleiter in den vergangenen Monaten standen. Er ärgert sich darüber, dass er für sich und seine Schule wichtige Informationen aus Pressekonferenzen erfuhr, die er am Fernseher verfolgte. Die offiziellen Schreiben des Kultusministeriums trudelten erst Tage später ein. Dafür waren es eine ganze Menge: Über 100 Schreiben, insgesamt 1000 Seiten, die Neckov durchzuackern und an seiner Schule oft kurzfristig umzusetzen hatte. In der aktuellen BLLV-Umfrage stimmen ihm seine Kollegen zu: Drei Viertel der Befragten sind mit der Informationspolitik des Kultusministeriums nicht zufrieden. Über 90 % der Schulleiterinnen und Schulleiter bewerten die kultusministeriellen Schreiben als zu viele.
Neckov appelliert: "Wir brauchen an den Schulen echte Eigenverantwortung mit kompletter politischer Rückendeckung. Denn nur so können wir die besten Entscheidungen vor Ort für unsere Schülerinnen und Schüler treffen." Gleichzeitig ist klar: Arbeits- und Gesundheitsschutzmaßnahmen müssen Grundlage aller Entscheidungen sein. Testungen – auf freiwilliger Basis – für alle Lehrerinnen und Lehrer seien eine gute Grundlage. Dabei hält er lokale und dezentrale Schulöffnungen bzw. -schließungen für den richtigen Weg.
Förderlehrer werden als mobile Reserve missbraucht
Die Corona-Krise hat zur Folge, dass Schulkinder auf extrem unterschiedlichen Lernniveaus unterwegs sind. Individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern müsste an Schulen jetzt Vorrang haben. Leider werden die Experten dafür, die Förderlehrkräfte, "missbraucht, um den Lehrermangel abzumildern, weil die mobile Reserve fehlt", berichtet Gerd Nitschke. Die BLLV-Förderlehrkräfteumfrage 2020 zeigt: Fast alle Förderlehrkräfte leisten mindestens acht oder gar mehr Stunden eigenverantwortlichen Unterricht (90%). Bei einem Teil davon liegt der Anteil zwischen 11 und 14 Stunden (14,7%) oder sogar höher als 14 Stunden pro Woche (8,9%).
Obwohl in der Dienstanweisung eindeutig festgelegt ist, dass der Einsatz an einer weiteren Schule nur in begründeten Ausnahmefällen erfolgen soll, unterrichten etliche Förderlehrkräfte an zwei (18,9%) oder drei (2,2%) Schulen. Die in der Dienstanweisung genannte Anzahl von maximal fünf Vertretungsstunden pro Woche wurde im aktuellen Schuljahr bei vielen Befragten bereits mehrfach überschritten (42,8%). Nur etwa ein Drittel der Förderlehrkräfte wird nach Möglichkeit nicht zu Vertretungen herangezogen (34,3%), während über ein Viertel der Teilnehmer erklärt, dass sie "erste Wahl" bei Vertretungsfällen sind (27,1%). Gerd Nitschke fordert deshalb: "Förderlehrer sollen gemäß ihrem Zweck eingesetzt werden und verdienen gerade jetzt attraktive Besoldung und Bezahlung."
Chance für einen neuen Lern- und Leistungsbegriff
Corona hat am althergebrachten Bildungsverständnis gerüttelt, konstatiert Simone Fleischmann. Als der Kultusminister coronabedingtes Sitzenbleiben ausgeschlossen hat, sei allgemein hinterfragt worden, was Schule eigentlich leisten solle. Kinder, die eigenverantwortlich lernen können, sind gut durch die Pandemie gekommen, berichtet Fleischmann. In der BLLV-Umfrage geben 97% der Befragten an, dass das digitale Kommunizieren mit Schülerinnen und Schülern während der Corona-Zeit die persönliche Beziehung nicht ersetzen konnte.
Es ist also allen klar: Die Basis des Lernens ist die Beziehung und das Ziel ist nicht das Sortieren von Schülern, sondern Kompetenzerwerb. Modernes Lernen, das Schülerinnen und Schüler wirklich fit macht fürs Leben und sie befähigt, selbstständig auch durch Krisenzeiten zu kommen, das geht nur auf der Grundlage eines ganzheitlichen Bildungsverständnisses, durch Lernen mit Herz. Kopf. Hand. Fleischmann sieht jetzt die Chance, einen neuen Lern- und Leistungsbegriff zu etablieren und verständisintensives Lernen voranzubringen.
Immer weniger Bildungsgerechtigkeit
Schulschließungen während der Corona-Pandemie trafen insbesondere die Kinder hart, die ohnehin schon mit schwierigen Verhältnissen zu kämpfen haben. Die Schere der Bildungsungerechtigkeit hat sich immer weiter geöffnet. Das spürt auch der 2. Vizepräsident des BLLV, Tomi Neckov. In seiner Arbeit als Schulleiter berichtet er von Kindern, die komplett abgetaucht waren. Auch Kontaktversuche seitens der Lehrkräfte und des Jugendamtes schlugen fehl. Grundsätzlich sei hier das "Brückenangebot" des Kultusministeriums, also die Förderung von Schulkindern mit Unterstützungsbedarf, löblich. Doch Neckov bezweifelt, ob damit auch den Kindern Hilfe geleistet werden kann, die es am dringendsten benötigen. Denn diese Kinder bräuchten eher Hilfe von psychosozialer Seite. Zudem gibt Neckov zu bedenken: Welche Lehrkräfte sollen die "Brückenangebote" leisten? Schließlich sei der Lehrermangel jetzt schon gravierend.
Um gut durch die Corona-Krise zu kommen, fordert BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann deshalb eine 110-prozentige Lehrerversorgung und seitens der Staatregierung absolute Transparenz, wieviele Lehrkräfte nun tatsächlich fehlen. "Klar wollen wir helfen, unsere Schülerinnen und Schüler so gut wie nur möglich durch diese Krise zu bringen", betont sie. "Aber wir können auch nur so viel geben, wie wir sind." Eine Offenlegung der Zahlen durch die Staatsregierung würde deutlich machen, dass Lehrerinnen und Lehrer mit einem hohen Einsatz gegen den Personalmangel anarbeiten, für den sie öffentliche Wertschätzung verdienen.
Medienberichte
Aussagen von Simone Fleischmann gegenüber den Nürnberger Nachrichten:
- "Schulleiter müssen zwar schon eine eierlegende Wollmilchsau sein, eine digitale eierlegende Wollmilchsau sind sie nicht. Irgendwann zerreißt’s die Sau."
- "Wir brauchen eine zentrale Organisationseinheit, die bayernweit den Einsatz digitaler Möglichkeiten implementiert, begleitet, evaluiert."
- "Das Personal für diese notwendige Förderung haben wir definitiv nicht. Der Fachmarkt ist leergefegt."
- "Dann wird's gefährlich: Wenn der Anspruch auf die einzelne Lehrerin zurückfällt, und die soll es dann richten unter Bedingungen, für die sie nicht verantwortlich ist."
- "Verlierer waren die Kinder, die es gewohnt waren, immer auf die nächste Klassenarbeit hin den Stoff auswendig zu lernen."
Aussagen von Simone Fleischmann im Bayerischen Fernsehen:
- "Wir haben die Kinder verloren, die die Endgeräte nicht haben. Wir haben die Kinder verloren, die die Eltern nicht hatten, die helfen konnten. Wir haben die Kinder verloren, die nicht eigenständig lernen konnten. So und das ist der zentrale Punkt: Haben wir ihnen das beigebracht?"
- "Wir wollen, dass wir vor Ort nicht die Deppen sind. Wir wollen das schaffen. Und jetzt sind wir zu wenige. Wir können nur das schaffen, wie viele wir sind."
Simone Fleischmann gegenüber BR24:
"Ist jetzt für September die Lehrerversorgung gesichert? Ja oder nein? Wir sind nicht das Kultusministerium, wir sind nicht die Staatsregierung. Wir fordern die auf, zu sagen, wie viel jetzt noch fehlt. Und wir lassen uns nicht an der Nase herumführen. Weil wir eins nicht mehr aushalten: Wir wollen nicht wieder die Deppenrolle haben im September und im nächsten Jahr."
Simone Fleischmann im Gespräch mit dem Donaukurier:
- „Wir wollen nicht die sein, die am Schluss den Karren aus dem Dreck ziehen. Wir wollen gute Lehrerinnen und Lehrer sein“
- „Wir werden im September nicht einfach alles anders machen können. Es ist im August kein Wunder zu erwarten, das dann auf einmal uns die Chance gibt, uns ganz anders aufzustellen“
Tomi Neckov zum Donaukurier:
- „Es fehlt im Freistaat massiv an Förderlehrern, die die individuelle Unterstützung Betroffener sicherstellen könnten.“
Weitere Medienberichte:
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