Das bayerische Erziehungsrecht wird den pädagogischen Belangen gerecht, indem es seit Kurzem erlaubt, Kinder auch gegen den Willen der arbeitenden Erziehungsberechtigten vom Nachmittagsangebot auszuschließen. Allerdings: Auf die Verhältnismäßigkeit kommt es an.
Der Fall – gebundener Ganztag
Benjamin besucht die 3. Klasse seiner Grundschule in der gebundenen Ganztagsklasse. In letzter Zeit häufen sich besonders am Nachmittag in den Übungsstunden in den Fächern Deutsch und Mathematik die Probleme. Benjamin lenkt Klassenkameraden ab, gibt während der Stillarbeitsphase laute Kommentare ab, streunt unwillkürlich im Klassenzimmer umher und stört die Mitschülerinnen und Mitschüler erheblich. Das sofortige und pädagogisch abgewogene Eingreifen der Lehrkraft hat nur kurzzeitig Erfolg. Mehrere Elterngespräche, eine außerschulische therapeutische Begleitung, innerschulische und klasseninterne organisatorische Veränderungen sowie Verweise bewirken keine Verbesserung.
Die Reaktion
Als nach einer erneuten massiven Unterrichtstörung an einem Nachmittag die Lage zu eskalieren droht, entschließt sich der Schulleiter, Benjamin für vier Wochen von der Ganztagsklasse in die Halbtagsklasse zu versetzen. Die Eltern sind aufgrund ihrer beruflichen Situation damit nicht einverstanden, sie betonen, dass sie keine andere Betreuungsmöglichkeit haben und legen beim Schulamt Widerspruch gegen die Maßnahme ein.
Die These
Da alle Maßnahmen erfolglos geblieben und die Störungenverstärkt am Nachmittag aufgetreten sind, ist die Entscheidung des Schulleiters verhältnismäßig und zielführend. Für die vier Wochen des Ausschlusses haben die Erziehungsberechtigten die Betreuung von Benjamin am Nachmittag selbst zu regeln. Dem Widerspruch wird nichtstattgegeben werden.
Die Begründung
Die Möglichkeit, Schüler z.B. bei wiederholter oder schwerer Störung des Unterrichts für bis zu vier Wochen aus der Ganztagsklasse herauszunehmen und in die Halbtagsklasse zu versetzen, ist seit dem 1. August 2019 nach Art. 86 Abs. 2Nr. 4c BayEUG statthaft. Zu den formalen Voraussetzungen des Artikels 86 gehört eine Anhörung des Schülers und der Erziehungsberechtigten. Genau dies hat der Schulleiter in Benjamins Fall getan.
Der Fall – offener Ganztag
Jennifer ist gut in der 5. Klasse ihrer Mittelschule angekommen. Allerdings tut sie sich schwer mit den Hausaufgaben. Die Eltern entschließen sich, auch auf therapeutischen Rat hin, Jennifer für die offene Ganztagsschule von Montag bis Freitag anzumelden, damit sie die Hausaufgaben zum großen Teil in schulischer Verantwortung erledigen kann. Das gelingt anfangs gut, doch schon bald läuft es auch in der betreuten Arbeit wie zuhause. Jennifer weigert sich immer öfter, die Hausaufgaben vollständig zu erledigen, schreit die Betreuungskräfte an und stört die Konzentration der Gruppemassiv. Erziehungsmaßnahmen und schulische Ordnungsmaßnahmen zeitigen keinen Erfolg. Allein die Freizeitangebote der offenen Ganztagsschule nimmt sie gern und bereitwillig wahr. An einem Donnerstagnachmittag aber eskaliert die Situation: Jennifer sitzt an ihren Hausaufgaben, eine Betreuungskraft versucht ihr in ruhigem Ton zu helfen. Da rastet das Mädchen plötzlich aus, schubst die Betreuungskraft weg und versucht sogar, sie zu schlagen.
Die Reaktion
Der Schulleiter beruft eine Lehrerkonferenz ein. Daraufhin wird beschlossen: Die Schülerin wird in den Monaten März und April für 8 Wochen von der Betreuung in der offenen Ganztagsschule ausgeschlossen. Die Eltern protestieren. Sie sind mit der Maßnahme an sich nicht einverstanden und drohen Widerstand vor allem wegen der vermeintlich zulangen Dauer des Ausschlusses.
These und Begründung
Auch diese Maßnahme wird bestehen bleiben. Gemäß Art. 86 Abs. 2 Nr. 6 b BayEUG gibt es seit dem 1. August 2019 die Möglichkeit, Schülerinnen und Schüler vom Betreuungsangebot der offenen Ganztagsschule über vier Wochen hinausauszuschließen. Jennifer hat das Betreuungsangebot durch wiederholtes Fehlverhalten gestört und durch das Schubsen und den versuchten Schlag auch die körperliche Unversehrtheit der Betreuungslehrkraft erheblich gefährdet. Daher wird die Maßnahme auch unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit im Rahmen von acht Wochen Bestand haben.
Fazit
Hauptanliegen der Ganztagsschule war schon immer, Schülerinnen und Schülern mit den unterschiedlichsten Lernvoraussetzungen gerecht zu werden, sie länger als gewohnt und über die 13-Uhr-Grenze hinaus kompetent zu unterstützen und zu betreuen, ihnen einen stabilen sozialen und strukturierten Rahmen zu gewährleisten. Zugleich sollte der Ganztagsunterricht den Erziehungsberechtigten die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtern. All das kann aber nur gelingen, wenn alle Beteiligten die notwendigen Regelungen akzeptieren und einhalten. Manchmal wollen sie das nicht, manchmal können sie es nicht: Veränderte oder jahrgangsstufenübergreifende Gruppenzusammensetzung kann manche Kinder überfordern. Einzelne Schülerinnen und Schüler kommen womöglich generell oder vorübergehend aus einer persönlichen Situation heraus nicht mit dem neuen Setting zurecht. Für die betroffenen Schülerinnen und Schüler, für Erziehungsberechtigte, aber auch für die Schulfamilie, muss es Auswege geben. Bisher musste man in schwierigen Fällen auf ein einvernehmliches Zusammenwirken aller Beteiligten setzen.
Durch die Neuregelung des Kataloges der Ordnungsmaßnahmen des Art. 86 BayEUG seit dem 1. August 2019 ist es nun der Schule möglich, Schülerinnen und Schüler gegen den Willen der Erziehungsberechtigten von den Angeboten des Ganztages vorübergehend auszuschließen, wenn deren Verhalten zum Beispiel durch Gefährdung von Dritten das Gelingen des Ganztagsangebotes in Frage stellt. Natürlich erscheint die zeitlich begrenzte Maßnahme nur im verhältnismäßigen pädagogischen Rahmen angebracht – wenn alle sonstigen Erziehungsmaßnahmen ausgeschöpft worden sind. Mit dieser gesetzlichen Anpassung leistet auch das Recht einen Beitrag zum Gelingen von Ganztagsunterricht und -betreuung. Gleichzeitig bleibt in der Fallbeschreibung mit dem Fokus auf die rechtliche Bewertung außen vor, welche weiteren pädagogischen Maß-nahmen zwischen Schule und Elternhaus in einer solchen Situation erarbeitet werden können, damit sich Benjamin und Jennifer im Sozial- und Arbeitsverhalten künftig leichter tut, egal ob im Halbtag oder Ganztag.
Artikel aus der bayerischen schule #2 2020