Gustav Neustädter (1892 bis 1942)

Gustav Neustädter wurde am 27. September 1892 um 10:45 Uhr in Sulzbürg in der Oberpfalz in Deutschland als Sohn einer jüdischen Familie geboren. Sein Vater war Jakob David Neustädter, von Beruf Handelsmann, und seine Mutter war Jette Neustädter (geb. Feldmann),  die aus Altenmuhr stammte. Er hatte 13 Geschwister.

Ausbildung und Militärdienst

Er besuchte die Volksschule in seinem Heimatort. Nach seinem Abschluss zog er nach Höchberg bei Würzburg, um in der jüdischen Präparandenschule zu lernen. Nach zwei Jahren musste er wegen Krankheit in sein Heimatdorf zurückkehren. Am 25. März 1913 legte er vor dem Distriktrabbinat Regensburg die Prüfung in den israelitischen Religionsfächern ab mit der Note II-III (fast gut). Damit durfte er als jüdischer Religionslehrer unterrichten. Von 1913 bis 1914 war er Religionslehrer und Kultusbeamter in Cham.

Im Oktober 1914 hat sich Gustav Neustädter freiwillig zum Militärdienst gemeldet. Er kämpfte auf der Lorettohöhe und in Ablain, Artois, La Bassée und Arras und im Oberelsass in Frankreich; am Törzburger-Paß, in Putna und Sereth, Susita und im Negra-Wald sowie im Dorf Ciuslea in Rumänien. Er wurde dreimal verwundet. Während des Ersten Weltkriegs am 12. Juli 1915 starb sein Vater Jakob. Er war 66 Jahre alt. Am 30. November 1918 wurde er aus dem Militärdienst entlassen.

Heirat und Familiengründung

Bis zur Hochzeit wohnte er in Adelsdorf. Am 20. Februar 1920 heiratete er Paula Bacharach vor dem Standesamt Wehrda im hessischen Haunetal. Über Paula ist bekannt, dass sie am 11. Oktober 1896 in Rhina als Tochter der Juden Moses Bacharach und Lina Bacharach (geborene Blumenthal) geboren wurde. Paula und Gustav zogen ins unterfränkische Maßbach, dort wurde ihr erster Sohn geboren. Sie nannten ihn Jakob, nach Gustavs Vater. Zwei Jahre später am 20. März 1923 kam der zweite Sohn zur Welt, Siegfried.

1924 zogen alle vier Neustädters nach Bad Kissingen. Nach einer kurzen Übergangszeit bezogen sie eine Wohnung in der Maxstraße 10 – im Gemeindehaus der Synagoge. Gustav arbeitete dort als Religionslehrer, Hilfskantor und Schächter. Ein Schächter oder Schochet ist ein Metzger, der koscher schlachtet. 1927 gründete Gustav den Schochtimverband Bayern. Am 16. Januar 1926 wurde ihr jüngster Sohn Ernst David geboren.

1934 bekam Gustav das Ehrenkreuz für Frontkämpfer. Das Frontkämpfer-Ehrenkreuz war eines von drei Ehrenkreuzen, die in der NS-Zeit an Frontkämpfer, Kriegsteilnehmer und Hinterbliebene von Kriegsteilnehmern des Ersten Weltkrieges vergeben wurden. Circa 10.000.000 Ehrenkreuze wurden „im Namen des Führers und Reichskanzlers“ vergeben. 1934 starb Gustavs Mutter Jette Neustädter. Sie wurde in Sulzbürg begraben.

Verfolgung

Im Januar 1937 legten die Nazis ein Verzeichnis von allen Juden in Bad Kissingen an. Sie trafen Vorbereitungen für weitere antisemitische Maßnahmen. Alle Juden in Bad Kissingen mussten Formblätter für die Judenkartei ausfüllen, so auch Gustav und Paula Neustädter. Ihr ältester Sohn Jakob emigrierte am 21. Juni 1938 von Hamburg an Bord des Schiffs SS President Harding in die USA. Er erreichte am 2. Juli 1938 New York.

In der Nacht des 9. November 1938 während der Reichspogromnacht wurden Juden in ganz Deutschland angegriffen und ihre Häuser und ihr Besitz zerstört. So war es auch in Bad Kissingen. Die Synagoge brannte aus, auch andere Gebäude jüdischer Eigentümer wurden verwüstet und 28 Männer in Haft genommen. Nach einem Brief des Staatlichen Gesundheitsamts Bad Kissingen vom 12. November 1938 wurden 16 von den 28 jüdischen Männern in Bad Kissingen als „lagerfähig“ deklariert. Die Haftanordnung für Neustädter und die anderen Männer wurde am gleichen Tag ausgegeben. Nach der Verhaftung wurden in Würzburg von Neustädter Fotos gemacht.

Am 13. Dezember wurde Gustav Neustädter unter folgenden Bedingungen aus dem Konzentrationslager Dachau entlassen: Er durfte nicht mehr unterrichten, musste sich jeden Montag und Freitag bei der Kriminalpolizei in Kissingen melden, und vor seiner Auswanderung musste er alle Formalitäten mit der Geheimen Staatspolizei in Würzburg regeln.

Emigrationsversuche

Die Dokumente zeugen von verzweifelten Versuchen, auszureisen: Am 17. Dezember 1938 wurde für Gustav, Paula, Siegfried und Ernst Neustädter vom amerikanischen Konsulat in Stuttgart die Wartenummer 34541 ausgegeben: die ungefähre Wartezeit bis der offizielle Visumsantrag gestellt werden könne, wurde „unverbindlich“  bis „Juli 1944/1945“ angegeben.  Siegfried emigrierte kurz danach am 1. Januar 1939 in die Schweiz. Im Dezember 1939 versuchten die Neustädters Pässe zur Ausreise nach Bolivien zu beantragen.

Deportation

In der Zwischenzeit übernahm Gustav immer mehr Aufgaben in der jüdischen Gemeinde Bad Kissingen. Seit der Emigration des Lehrers Ludwig Steinberger im Mai 1937 war Gustav bereits erster Kantor und Lehrer. Ab 1939 versah er auch das Amt des Gemeindevorstands. Er musste den Verkauf der zerstörten Synagoge an die Stadt Bad Kissingen durchführen und mit seiner Familie zur Untermiete in die Hemmerichstr. 33 ziehen. 

Ernst Neustädter, der jüngste Sohn, beendete die israelitische Volksschule am 20. März 1940 in Frankfurt am Main. Vom 15. Juli 1940 bis zum 23. März 1942 besuchte er als Lehrling die Abteilung Metallbearbeitung der Werkstätten der Jüdischen Kultusvereinigung der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main e.V.

Als Ernst seinen Abschluss machte, bereiteten die Nazis gerade die Deportation der Juden in Bad Kissingen vor. „Evakuierungs“-Nummern wurden ausgegeben. Die Nummern der Familie Neustädter waren: Gustav - 618, Paula - 619 und Ernst - 620. Alle Juden des Transports mussten das Folgende mitbringen: Als Zahlungsmittel 50 RM oder 100 Zloty, einen Koffer oder Rucksack, vollständige Bekleidung, Bettzeug mit Decke, Verpflegung für zwei Wochen, ein Teller oder Topf mit Löffel, dazu noch andere Dinge.

Am 24. April 1942 wurden alle Juden von Bad Kissingen zwischen 12 und 16 Uhr nach Würzburg gebracht. Am nächsten Tag, dem 25. April 1942, wurden 850 Juden aus Mainfranken, einschließlich Gustav, Paula und Ernst Neustädter, nach Lublin, in das Ghetto Izbica deportiert. Die Nazis führten ein Verzeichnis der Silbergegenstände. Gustav wird darin mit zwei Löffeln, zwei Gabeln, einem Tranchierbesteck, einem Serviettenring, einem Becher und einer Gewürzbüchse aufgeführt.

Vom 28. April 1942 gibt es den letzten Hinweis auf Gustav, Paula und Ernst Neustädter. Gustav, seine Frau und sein Sohn sind an diesem Tag um 8:45 Uhr in Lublin angekommen. Niemand weiß, was danach passierte. Sie wurden nach dem Krieg für tot erklärt.

Jakob Neustädter

Der älteste Sohn Jakob schrieb sich am 10. Dezember 1943 bei der US Army ein. Am 15. Oktober 1944 heiratete er Rosel Mayer in Bridgeport Connecticut. 1946 emigrierte Siegfried, der mittlere Sohn, aus der Schweiz nach Israel und heiratete dort Ruth Dreyfuss. Siegfried emigrierte 1957 in die USA und starb am 29. Juli 1968 in Connecticut. Jakob starb am 14. April 2000 in Connecticut.

Am 22. Januar 2010 wurden von dem Künstler Gunter Demnig für Gustav, Paula und Ernst Neustädter Stolpersteine an der Promenadestraße 2 in Bad Kissingen gesetzt.

Quellen        

  • ITS Archives, Bad Arolsen, Kopie von 1.1.6.7 / 10715853 Schreibstubenkarte Dachau         
  • ITS Archives, Bad Arolsen, Kopie von 1.2.1.1 / 11196483 Transportlisten Gestapo         
  • ITS Archives, Bad Arolsen, Kopie von 1.2.3.0 / 82165849, Akten der Gestapo und Informationen über die Gestapo         
  • StAWü Gestapostelle Würzburg 8635, Geburtsurkunde
  • StAWü Gestapostelle Würzburg, Bezirksamt Bad Kissingen
  • StAWü, Gestapostelle Würzburg 18876, 5454 Heft 4. Evakuierung von Juden aus Main Franken am: 25.4.1942. II. Teil. Sammelstelle: Würzburg, Saal-bau Platz’scher Garten
  • StAWü, Gestapostelle Würzburg 18876, Geheime Staatspolizeistelle Nürnberg-Fürth Außendienststelle Würzburg
  • StAWü, Gestapostelle Würzburg 18876, Lublin, den 27.4.1942. Fernschreiben
  • StAWü, Gestapostelle Würzburg 18876, Vorläufiges Verzeichnis der im Gepäck mitzuführenden Sachen
  • StAWü, Gestapostelle Würzburg 8635, Israelitische Volkshochschule Frankfurt/Main
  • StAWü, Gestapostelle Würzburg 8635, Werkstätten der Jüd. Kultusvereinigung, Jüd. Gemeinde in Frankfurt am Main
  • StAWü, Gestapostelle Würzburg 8635, Amerikanisches Konsulat Stuttgart-N, Königstraße 19a
  • StAWü, Gestapostelle Würzburg 8635, Berufsfachschule der Jüdischen Kultusvereinigung (Jüdische Anlernwerkstätte)
  • StAWü, Gestapostelle Würzburg 8635, Standesamt Wehrda
  • StAWü, Gestapostelle Würzburg 8635, Geheime Staatspolizei Staatspolizeistelle Nürnberg-Fürth, Außendienststelle Würzburg
  • StAWü, Gestapostelle Würzburg 8635, Staatspolizeistelle Würzburg
  • StAWü, Gestapostelle Würzburg 8635, Konsulat der Dominikanischen Republik
  • StAWü, Gestapostelle Würzburg 8635, Mitteilung der Kanzlei an den Bürgermeister der Stadt Bad Kissingen, vom 12.12.1939
  • StAWü, Gestapostelle Würzburg 8635, Regierung der Oberpfalz und von Regensburg, Kammern des Innern
  • StAWü, Gestapostelle Würzburg 8635, Stadtrat Bad Kissingen
  • StAWü, Gestapostelle Würzburg 8635, Standesamt Bad Kissingen
  • StAWü, Gestapostelle Würzburg 8635, Standesamt Maßbach
  • StAWü, Gestapostelle Würzburg 8635, Zentralnachweiseamt für Kriegerverluste und Kriegergräber, Zweigstelle München, Büro II, No III J 4/22/1553
  • StAWü, Landratsamt Bad Kissingen 3101 und 3112
  • Alemannia Judaica, „Der Israelit“ vom 22.07.1915: Zum Tod von Jakob David Neustädter
  • Alemannia Judaica, Bericht des Kissinger Schochet Gustav Neustädter über die Arbeit des 1930 gegründeten „Reichsverbandes der Schochtim“ (1931)
  • Alemannia Judaica, „Der Israelit“ vom 15.11.1934 „Zum Tod von Jette Neustädter geb. Feldmann“
  • Ancestry.com, „Main-Post“ vom 22.01.2010: „Bad Kissingen. Die Opfer in die Stadt…“
  • Private Fotos aus Familienbesitz 

 

Verfasserinnen

Katherine Semel (24) aus den USA und Maya Bakulina (24) aus Russland sind Freiwillige von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste für das Jahr 2014-2015. Sie arbeiteten in der Evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau und beim Gedächtnisbuch. Die Biografie wurde 2015 erstellt.