Heterogenität als Kapital sehen

Interview mit Waltraud Lučić, Initiatorin von "Wertvoll miteinander" und MLLV-Vorsitzende

 

Jeder Fünfte in Deutschland hat Migrationshintergrund. Doch beim Thema „Interkulturelle Kompetenz“ hat das Schulsystem Nachholbedarf. Der BLLV hilft Schulen mit einem neuen Leitfaden und vermittelt Berater für „Interkulturelle Schulentwicklung“. Waltraud Lučić und Amin Rochdi erklären, warum „Interkulturelle Schulentwicklung" wichtig ist und wie sie umgesetzt werden kann.

Was hat sie bewogen, das Modellprojekt auf die Beine zu stellen?

Waltraud Lučić: Meine Tochter ist leider nicht immer so behandelt worden, wie ich es mir gewünscht hätte, nur weil sie einen ausländischen Namen hat. Ich selbst habe 30 Jahre lang Kinder mit Migrationshintergrund unterrichtet und möchte, dass sie gleichberechtigt behandelt werden.

Amin Rochdi: Ich habe schon als Schüler gemerkt, dass Interkulturalität im Schulalltag, wenn überhaupt, nur punktuell thematisiert wird, nie aber in dem Sinne, dass interkulturelle Schulentwicklung alle angeht.

Ist Interkulturelle Kompetenz nicht erst seit der aktuellen Migrationsbewegung eine der Schlüsselqualifikationen des 21. Jahrhunderts?

Lučić: Ja, sie ist aber leider nicht überall vorhanden. Selbst Menschen, die dauerhaft mit Kindern mit Migrationshintergrund arbeiten, ist manchmal nicht bewusst, dass sie mit ihrem Verhalten verletzen können, auch wenn sie es gut meinen. Ein Beispiel: Ich frage ein Kind, das etwas anders aussieht, ‚Woher kommst Du?‘. Damit habe ich es ausgegrenzt, denn in Wirklichkeit ist es hier geboren, hat sogar die deutsche Staatsbürgerschaft. So etwas kommt häufig vor.

Rochdi: Das Bildungssystem hinkt in diesem Bereich der Wirtschaft hinterher. Allmählich erkennen wir, dass auch hier globalisiertes Denken notwendig ist. Wir haben immer mehr Schüler mit Migrationsgeschichte. Sie sind entweder echte Migranten wie jetzt die Asylsuchenden oder wurden hier geboren. Mit Blick auf den Arbeitsmarkt und die weiter zusammenwachsende Welt wäre es beschämend, wenn wir das vorhandene Potenzial nicht noch besser für uns als Gesellschaft nutzbar machen. Darum müssen wir diese jungen Menschen ausreichend fördern und kulturelle sowie sprachliche Heterogenität mehr als Kapital denn als Problem sehen.

Was verstehen sie unter „Interkultureller Kompetenz“?

Rochdi: Es geht darum, sich selbst zu vergegenwärtigen, dass Menschen unterschiedlich denken. Natürlich gibt es kulturelle Unterschiede. In der einen Kultur spielt Pünktlichkeit eine große Rolle, in einer anderen ist das Soziale sehr wichtig. Aber zu sagen, ein Türke ist so und so, wiederholt nur Vorurteile, denn auch in anderen Kulturkreisen ticken Menschen verschieden. Wir möchten Lehrkräfte, Schüler und Eltern für diese Unterschiedlichkeit von Menschen sensibilisieren. Wenn das alle akzeptieren, hilft das, Konflikte zu vermeiden.

Mangelt es uns an Interkultureller Kompetenz?

Lučić: Ich finde, dass uns der Mangel daran gar nicht bewusst ist. Wenn wir ein friedliches Miteinander wollen, wird das aber nur gelingen, wenn alle, die hier leben, Interkulturelle Kompetenz entwickeln und das eigene Verhalten reflektieren. Damit möchte ich nicht sagen, dass an den Schulen keine Interkulturelle Kompetenz vorhanden wäre. Wir wollen aber das, was schon da ist, weiterentwickeln.

 

Fällt ihnen ein Beispiel für den Mangel am nötigen Einfühlungsvermögen ein?

Lučić: Eine Schule, die ich kürzlich besucht habe, entwickelt den Jahresplan anhand der Feste im Jahresverlauf – der deutschen Feste. Nun haben aber 50 Prozent der dortigen Schüler Migrationshintergrund. Dennoch war man der Überzeugung, dass alle Schüler gleichberechtigt behandelt würden.

Kann eine Schule der Nährboden sein für eine Entwicklung, die ihr gesamtes Umfeld beeinflusst?

Rochdi: Schulen vermitteln jungen Menschen Normen und Werte und wirken so natürlich in die Gesellschaft hinein. Wenn Kinder und Jugendliche außerhalb des Unterrichts etwa mit den Eltern über Themen aus der Schule sprechen, tragen sie diese Werte weiter.

Lučić: Es müsste selbstverständlich sein, dass man Kindern Interkulturelle Kompetenz beibringt - so wie man ihnen auch lernt, mit Messer und Gabel zu essen.

Welche Handlungsfelder umfasst Interkulturelle Schulentwicklung?

Rochdi: Personal, Organisation und Unterricht. Nicht nur Lehrkräfte sollten sich fortbilden. Auch die anderen Mitarbeiter geht das Thema etwas an. Der Hausmeister könnte zum Beispiel Verpflegung speziell für Muslime anbieten. Schulen müssen zeitliche Spielräume schaffen, in denen entsprechende Kompetenzen eingeübt werden können. Außerdem müssen wir die Akteure besser miteinander vernetzen. In Nürnberg unterstützen ehrenamtliche Elternlotsen Eltern mit Migrationshintergrund und Lehrkräfte bei Elterngesprächen. Auf der unterrichtlichen Ebene kann man besondere Förderangebote schaffen oder Themen zur Interkulturalität in den einzelnen Fächern anbieten.

Lučić: Auch die Sprache ist ein großes Handlungsfeld. Im Fachunterricht gibt es viele Fachausdrücke, die für Kinder mit Migrationsunterricht schwierig zu verstehen sind. Ich habe diese immer der Deutschlehrerin gegeben, die dann in ihren Stunden die Begriffe mit den Kindern einstudiert hat.

Wie lange dauert so ein Schulentwicklungsprozess?

Rochdi: Es braucht schon mehrere Jahre, bis Interkulturalität nach und nach zur Normalität wird.

Sollte Interkulturelle Kompetenz Teil der Lehrerbildung werden?

Lučić: Unbedingt!

Wie geht es mit dem Projekt weiter?

Lučić: Ich setze mich dafür ein, dass die jetzt fertig ausgebildeten 15 Berater Anrechnungsstunden bekommen, wenn sie Schulen coachen. Derzeit müssen sie das in ihrer Freizeit machen.

Ihre Vision für die Schule der Zukunft: Wie sieht sie aus?

Rochdi: Ich wünsche mir, dass Menschen mit Migrationshintergrund und Einheimische zu einem großen Wir werden.

Lučić: Vielfalt sollte als Wert und als Chance gesehen werden. Es sollte selbstverständlich sein, dass es unterschiedliche Menschen gibt, und ein jeder seinen Wert hat.

Zur Person

Waltraud Lučić hat das vierjährige Projekt "WERTvoll MITeinander - Interkulturelle Bildung für ein gelingendes Miteinander" vor vier Jahren zusammen mit Michalea Hillmeier von VIA Bayern, Verband für Interkulturelle Arbeit, initiiert. Lučić ist Vorsitzende des Münchner Lehrer- und Lehrerinnenverbands. Amin Rochdi hat sich im Rahmen des Projekts zu einen von 15 "Beratern für interkulturelle Schulentwicklung" fortgebildet. Rochdi ist Realschulehrer und bildet an der Universität Erlangen-Nürnberg Lehrkräfte für Islamischen Religionsunterricht aus. Er ist Sprecher des Netzwerks "Lehrkräfte mit Migrationsgeschichte e.v.".