"Interkulturelle Kompetenz geht alle an"

Harun Lehrer ist einer der wenigen Pädagogen an Bayerns Schulen mit Migrationshintergrund. Der 35-Jährige unterrichtet an einer Münchner Mittelschule und setzt sich für Chancengleichheit und Toleranz ein. Schule spielt für ihn eine wesentliche Rolle, wenn es um die Vermittlung von gegenseitiger Wertschätzung und interkultureller Kompetenz geht.

 

Ihre Mutter ist gebürtige Türkin. Hatte ihre Umwelt ein Problem damit?

Ich bin in einem Vorort von München aufgewachsen. In der Grundschule war ich damals einer der wenigen Schüler mit einem fremd klingenden Vornamen und ich hatte das Gefühl, nicht so richtig dazu zu gehören. Vor allem dann, wenn ich gefragt wurde, woher ich komme, denn ich sah nicht so aus wie ein deutsches Kind. Dann war ich immer ein bisschen verlegen, da ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Sollte ich antworten „Ich komme aus Deutschland“ oder „Ich komme aus der Türkei“? Ich musste dann immer erklären „Ich bin in München geboren, aber meine Mutter kommt aus der Türkei“. Meine deutschen Freunde wurden das nie gefragt und mussten sich nicht rechtfertigen.

 

Haben Sie das Gefühl, dass sich das heute geändert hat?

Ich werde nicht mehr so oft gefragt, woher ich komme. Wieso, weiß ich nicht. Vielleicht fragt man das Kinder eher als Erwachsene.

 

Aber es gibt aus ihrer Sicht noch viel Nachholbedarf.

Auf jeden Fall, wenn man sich die Chancengleichheit im Schulsystem anschaut. In meiner Mittelschulklasse sitzen fast nur Schüler mit Migrationshintergrund. Geht man ins Gymnasium nebenan, finden Sie in der gleichen Jahrgangsstufe fast nur Schüler ohne Migrationshintergrund. In meinen Augen gibt es hier auf jeden Fall Verbesserungspotenzial.

 

Was steckt hinter dem Projekt „WERTvoll MITeinander“?

Das Projekt will professionelle Schulberatung im interkulturellen Bereich leisten. „WERTvoll MITeinander“ coacht Schulen über einen längeren Zeitraum in diesem Bereich. Innerhalb dieses Coaching-Prozesses werden gemeinsam mit den Schulen individuelle, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Ziele erarbeitet und nachhaltig umgesetzt.

 

Was sind das für Ziele?

Jede Schule hat andere Bereiche, an denen sie arbeiten möchte. An der einen Schule zum Beispiel möchte man die interkulturelle Elternarbeit verbessern. Die dortigen Lehrkräfte erreichen einige dieser Eltern nur schwer, weil sprachliche Barrieren vorhanden sind oder sie auf ihre Kontaktbemühungen zu wenig Resonanz erhalten. Ein externer Coach und eine speziell dafür ausgebildete Lehrkraft analysieren im Tandem gemeinsam mit der Schule mögliche Ursachen und erarbeiten dafür Lösungsvorschläge. Das könnte zum Beispiel die Schaffung eines Netzwerks von Dolmetschern sein, um die Kommunikation zu verbessern. Vielleicht liegen die Probleme aber auch darin, dass das Lehrerkollegium noch intensiver in seiner interkulturellen Kompetenz geschult werden muss.

 

Was bedeutet interkulturelle Kompetenz für Sie?

Es bedeutet, dass man zum Beispiel echte Empathie entwickelt. Darunter verstehe ich, dass man sich für andere Menschen und ihre Lebenssituation interessiert und einander im Alltag mit mehr Fingerspitzengefühl begegnet. Es geht darum, das eigene Schubladendenken zu hinterfragen und das Kategorisieren in Stereotypen zu vermeiden.

 

Jüngsten Statistiken zufolge weist jeder fünfte Deutsche einen Migrationshintergrund auf. Ist vor diesem Hintergrund interkulturelle Kompetenz nicht eine Schlüsselqualifikation, die eigentlich alle Bürger dieses Landes bräuchten?

Interkulturelle Kompetenz geht alle an und ist keine einseitige Sache. Ich finde, man darf nicht nur von den Menschen mit Migrationshintergrund verlangen, sie müssten sich anpassen. Aus meiner Sicht entsteht dadurch das Gefühl, dass ein Migrationshintergrund mit Defiziten behaftet ist. Das ist falsch. Jeder sollte sich frei entfalten dürfen und wir können und müssen alle voneinander lernen und profitieren.

 

Findet die Vermittlung interkultureller Kompetenzen an unseren Schulen zu wenig statt?

Ich weiß natürlich nicht, was an anderen Schulen stattfindet. Aber ich habe schon das Gefühl, dass noch zu wenig geschieht. Wenn ich höre, dass hier geborene Schüler, deren Eltern als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen sind, manchmal von Lehrkräften immer noch als Ausländer bezeichnet werden, spricht das für mehr Aufklärung.

 

Ist es realistisch, dass Schule zu einer toleranteren Gesellschaft beitragen kann?

Auf jeden Fall. Schule ist nicht nur ein Ort der Bildung, sondern auch der Erziehung. Von daher ist die Schule prädestiniert dafür. Sie sollte Kindern gewisse Werte mit auf den Weg geben, damit ein friedliches und gleichberechtigtes Zusammenleben in unserer Gesellschaft möglich ist.

 

Schule ist für Sie also auch Ort der Persönlichkeitsbildung. Ist dafür auch genügend zeitlicher Raum vorhanden?

Es sollte dafür genügend Raum sein und wenn nicht, könnte das ein Thema für den Coaching-Prozess sein, um zu erörtern, wie man solche zeitlichen Freiräume schaffen kann.

 

Wie sollte Schule in zehn Jahren aussehen?

Mich würde es freuen, wenn der Mensch an sich gesehen wird und seine Herkunft keine Rolle mehr spielt. Wenn man zum Beispiel nicht mehr vom türkischen „Kopftuchmädchen“ oder vom Jungen aus Afghanistan sprechen würde, sondern nur den Jugendlichen sieht.