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Verständnisintensives Lernen (ViL) in der Praxis Projekte
Bildungsqualität

Zeit für Verstehen

Axel Weyrauch lebt als Leiter der Gemeinschaftsschule Wenigenjena die Prinzipien des Verständnisintensiven Lernens. Hier berichtet er über den Praxis- und Projekttag an der Schule.

Ein Beitrag von Axel Weyrauch, Gründer und Schulleiter der Gemeinschaftsschule Wenigenjena in Jena und Experte für Verständnisintensives Lernen. Erschienen in der Impulse-Broschüre "Lernen und Leistung im 21. Jahrhundert" 2022.

Wenn Hindernisse, Zweifel und Korrekturen im Prozess bearbeitet werden und der Erfolg gemeinsam erlebt wird, ist dies für den Prozess des Verstehens und das Erleben von Selbstwirksamkeit wertvoll.

Worum geht es uns?

Verstehen benötigt Zeit. Zeit für Erfahrungen, die Entwicklung und Prüfung von Vorstellungen sowie Zeit für eigene Entscheidungen, Handlungen und Reflexionen. Verstehen kann unmittelbar gelingen. Es kann oder muss auch auf der Korrektur von Fehlannahmen beruhen. Verstehen ist ein individueller Prozess und doch bedarf es in den meisten Fällen sozialer Interaktion und der Übernahme unterschiedlicher Perspektiven. Verstehen benötigt Zeit, mehr Zeit als 45 Minuten. Wir wissen nicht, wann für einzelne Schülerinnen und Schüler der Moment des Verstehens einsetzt. Wir können aber intensivere, längere, zusammenhängende Zeiten für das Verstehen planen.

Dieses Ziel war Teil der Arbeit am pädagogischen Konzept im Gründungsprozess unserer Schule. Eine unserer Antworten war
die Einführung eines wöchentlichen Praxis- und Projekttages (PPT) an unserer Schule. Nach mittlerweile sieben Jahren Erfahrung in
der Entwicklung der Schule und sieben Jahren Praxis- und Projekttag können wir einschätzen, dass wir einen möglichen Weg für mehr Zeit für das Verstehen erprobt und gefunden haben.

Wie haben wir die Idee entwickelt?

An unserer Gemeinschaftsschule gibt es in jeder regulären Schulwoche am Donnerstag den Praxis- und Projekttag. Am Beginn der Schulgründung für zwei 5. Klassen und mittlerweile für 480 Lernende aller Klassenstufen 5-10. In den Klassenstufen 1 bis 4 führen wir ihn einmal im Monat durch.

In der Gründungsphase der Schule beriet ein Team von fünf Pädagoginnen und Pädagogen, wie wir folgende Aspekte in ein gemeinsames pädagogisches Format bringen können:

  • Den Lernenden mehr zusammenhängende Zeit für grundlegende Verstehensprozesse einräumen.
  • Für solche grundlegenden Lernprozesse den Rahmen für einen „material- und interaktions-intensiveren“ Zugang geben.
  • Gemeinsame Erfahrungen als Ausgangspunkt für das Lernen aller Schülerinnen und Schüler – unabhängig von ihren Voraussetzungen ermöglichen (Inklusion).
  • Im Lernprozess unterschiedliche Schwerpunkte und Zeiträume für das Lernen ermöglichen.
  • Außerschulische Lernorte aufsuchen, die eine umfassendere oder unmittelbare Erfahrung bzw. darauf aufbauende Vorstellungen ermöglichen.
  • Außer- oder innerschulische Expertisen, Vorbilder und Unterstützer in den pädagogischen Prozess einbeziehen.
  • Lernenden im Lernprozess das Fertigen von Produkten, deren Analyse, das Erkennen und Korrigieren von Fehlern ermöglichen und doch am Ende des Schultages einen Abschluss finden.
  • In einem pädagogischen Format ein Gleichgewicht aus fachlichen, sozialen und individuellen Lernprozessen schaffen.

Der Praxis- und Projekttag war nach vielen Wochen des Überlegens, Streitens, Verwerfens und Analysierens gefunden. An jedem Donnerstag hat jede Klasse 4-5 Stunden am Stück bei einer Lehrperson in einem Fach Unterricht. Die anderen beiden Stunden des Tages sind eine tägliche Lernzeit und der Klassenrat vor dem Start in den Praxis- und Projekttag. Dieses Modell haben wir gewählt, da diese beiden Stunden in Einzelfällen ohne Probleme verlagert werden können und so auch ganztägige Ausflüge möglich sind.

Welches Fach in der jeweiligen Woche dran ist, wird in einem Extraplan für jeweils ein Vierteljahr festlegt. Dieser Planung liegt folgender Schlüssel zugrunde: Für die Stundentafel jeder Klassenstufe werden zunächst vier Tage der Woche wie üblich tages- und wochenweise geplant. Je Fach wird mindestens eine Wochenstunde geplant. Für jedes Fach wird anschließend berechnet, wie viele Wochenstunden auf das Jahr gerechnet dann noch nicht erteilt sind. Diese Summe muss dann genau den Unterrichtsstunden für die Donnerstage entsprechen. Folglich werden die Stunden je Fach auf das Jahr gerechnet und durch die Anzahl der Donnerstage geteilt. Dieser Quotient gibt an, wie viele Donnerstage jeweils das einzelne Fach erhält.

Welche Kriterien legen wir für die Wirksamkeit an?

Während der Suche gab es immer wieder Phasen der Prüfung und dafür einen Kompass: Das „Verständnisintensive Lernen“! Wir stellen uns Fragen:

  • Ermöglicht das Format für allen Lernenden zum Thema grundlegende Erfahrungen?
  • Ist in diesem Format Zeit und Raum für die Wahrnehmung und den Austausch über Vorstellungen der Lernenden? Dazu zählt auch die Frage nach fehlerhaften Vorstellungen und Zeit für deren Reflexion.
  • Können die Lernenden in diesem Format Begriffe, Theorien und Konzepte handelnd und vergleichend – durch Modelle, Rollenspiele, Experimente, Stationenarbeit, eigene Entwürfe etc. – erproben, bauen, begründen und diskutieren?
  • Haben die Lernenden Raum und Zeit für soziale und fachliche Interaktion, unterschiedliche Tempi und das Überwinden von zwischenzeitlichen emotionalen Hemmungen bzw. Phasen von Zweifeln mit Unterstützung der Lehrenden?

Woher kommen die Ideen, Inhalte und Konzepte für den Praxis- und Projekttag?

Sie sind schon da. Sie stehen in Büchern – z.B. in Martin Kramers wunderbarer Reihe „Mathematik als Abenteuer“. Sie werden im Studium und in den Studienseminaren in Form von umfangreicheren Experimenten, Exkursionen, Lernen am anderen Ort, szenischem Spiel und Simulationen erlebt und gelernt. Für alle Fächer findet man methodisch-didaktische Konzepte und Hinweise für Lernprozesse über mehrere Stunden bzw. einem besonderen handlungsorientierten Ansatz. Wir erleben bei vielen Pädagoginnen und Pädagogen, die neu an unsere Schule kommen, dass erste Ideen bereits mitgebracht werden.

Mit den obigen Fragen und Kriterien beraten wir als Schulleitung und gegenseitig. Ein Aspekt ist uns dabei wichtig: Im Verlauf eines PPT kommt es darauf an, ausreichend Zeiten für Reflexion und Begleitung für Lernendengruppen oder einzelne Lernende einzuplanen. In dieser Zeit erhalten metakognitive Prozesse eine besondere Aufmerksamkeit. Verstehensprobleme haben nach unserer Erfahrung ihre Ursache zu einem nicht geringen Teil in mangelndem Zutrauen in das eigene Denken und Handeln, sowie in sehr elementaren Differenzen in den Vorstellungen zu Begriffen, Abläufen und Bedeutungen. Diese kann man durch Impulse aufnehmen: Was bedeutet das für dich? Woher weißt du das? Wie stellst du dir das vor? Zeichne es. Beschreibe es. Woher kennst
du das Wort oder die Bedeutung? Vor welchen Schritt zögerst du oder hast du Bedenken?

Damit die Zeit der Reflexion zu neuen Handlungen führt, sollte sie nicht nur am Ende des Tages liegen. Wenn Hindernisse, Zweifel und Korrekturen im Prozess bearbeitet werden und der Erfolg gemeinsam erlebt wird, ist dies für den Prozess des Verstehens und das Erleben von Selbstwirksamkeit wertvoll. Die Zeit dafür schaffen wir mit diesem Tag.

Verbunden mit den formulierten Kriterien werden die Ideen weiterentwickelt. Es werden z.B. nach einer Idee von Martin Kramer vorgegebene geometrische Körper aus Erbsen und Zahnstochern gebaut, analysiert, in einem Körperbuch digital erfasst, das Wissen auf kompliziertere Körper übertragen, wieder erfasst und dokumentiert, Thesen zu Gesetzmäßigkeiten aufgestellt, mit neuen, auch eigenen Körpern geprüft, wieder erfasst und dokumentiert. Am Ende hängen viele Körper auf einer Wäscheleine, jede Schülerin und jeder Schüler hat mehrere Körper gebaut, geprüft und dokumentiert und ein eigenes Körperbuch. Vier Stunden für das Verstehen.

Ähnlich kann man es sich vorstellen, wenn Modelle von Zellen gebaut werden, Szenen aus der Steinzeit oder dem Mittelalter vorbereitet und gespielt werden, die Entscheidung im parlamentarischen Prozess der Stadt Jena für oder gegen einen Spielplatzbau neben der Schule Thema wird oder eine Klasse ein Gedicht schreibt. Eine nochmals andere Dimension ermöglicht dieser Tag für die gesamte Schulgemeinschaft, wenn alle an einem Thema arbeiten. Dies erfolgte z.B. im letzten Schuljahr bei der Erstellung unseres
digitalen Adventskalenders mit 28 Türen von allen Klassen der Schule.

Ein rein organisatorisches Argument gehört auch zu dieser Frage. Durch den wöchentlich feststehenden Termin sind wir verlässlich für externe Partner und für die schulinternen Planungen. Es müssen keine Planungen anderer Klassen verändert werden. Es gibt auch eine Herausforderung: Diesen Tag spontan zu vertreten will gelernt sein.

Verstehen braucht Zeit und Verstehen ändert die Qualität der erlebten Zeit.

Probieren Sie es aus und lassen Sie sich Zeit für die eigenen Erfahrungen. Wir beraten gern, wenn Sie Interesse haben.

Tipp: Impulsvortrag von Axel Weyrauch

Im Rahmen der BLLV-Reihe "Weiterdenken" gibt Axel Weyrauch spannende Einblicke in das Verständnisintensive Lernen. Hier geht es zum Video.



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