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forsa-Befragung zeigt Schwachstellen beim gemeinsamen Lernen Startseite

Baustelle Inklusion

Das gemeinsame Lernen von Menschen mit und ohne Behinderung ist elementar für Bildung. Gerade das bayerische Schulsystem separiert stark, wie auch die neueste forsa-Umfrage zeigt.

Das Thema der Unterrichtung von Schülern mit festgestelltem sonderpädagogischen Förderbedarf an Regelschulen wird spätestens seit Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention und der begonnenen Umsetzung der „Inklusion“ in den einzelnen Bundesländern wird zunehmend auch in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen und dort wie in den Medien kontrovers diskutiert.

Vor diesem Hintergrund hat forsa im Auftrag des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) nach den Befragungen im Jahr 2015 und im Frühjahr 2017 erneut eine bundesweite Repräsentativbefragung unter Lehrerinnen und Lehrern an allgemeinbildenden Schulen durchgeführt. Im Rahmen der Untersuchung wurden bundesweit insgesamt 2.127 Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland (darunter 506 in Bayern) befragt. Die Erhebung wurde vom 11. September bis 12. Oktober 2020 durchgeführt.

Mehrheit der Lehrkräfte für eine gemeinsame Unterrichtung

Laut der UN-Behindertenrechtskonvention sollen Kinder mit einer Behinderung grundsätzlich das Recht haben, gemeinsam mit anderen Kindern an einer allgemeinen Schule unterrichtet zu werden.

Unter der Voraussetzung, dass die finanzielle und personelle Ausstattung der Schulen in Deutschland für einen inklusiven Unterricht sichergestellt wäre, halten aktuell 56 Prozent der befragten Lehrkräfte in Bayern – und damit genauso viele wie im Bundesgebiet insgesamt - eine gemeinsame Unterrichtung von allen Kindern mit und ohne Behinderung grundsätzlich für sinnvoll. 37 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer in Bayern (39 Prozent im gesamten Bundesgebiet) halten es hingegen auch im Falle entsprechender finanzieller und personeller Rahmenbedingungen für sinnvoller, wenn Kinder mit einer Behinderung in speziellen Förderschulen unterrichtet werden.

Die grundsätzliche Akzeptanz von inklusivem Unterricht unter den Lehrkräften in Bayern fällt etwas höher aus als in den Jahren 2015 und 2017.

Für eine gemeinsame Unterrichtung spricht laut den Befragten insbesondere die (bessere) Integration von Kindern mit Behinderung, der Abbau von Berührungsängsten und Vorurteilen, das soziale Lernen, die Förderung von Toleranz und von sozialen Kompetenzen. Dagegen sprechen laut den Umfrageteilnehmenden vor allem, dass individuelle Förderung beider Gruppen nicht möglich ist und die Regelschule den erhöhten Förderbedarf behinderter Kinder nicht leisten kann.

Personelle Unterstützung oftmals kaum vorhanden

Fast alle Lehrerinnen und Lehrer in Bayern (93 %) wie auch im Bundesgebiet insgesamt (96 %) sind der Meinung, dass es in inklusiven Schulklassen eine Doppelbesetzung aus Lehrkraft und Sonderpädagoge geben sollte. Die große Mehrheit von 79 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer in Bayern (gegenüber 86 % im Bundesgebiet insgesamt) ist auch der Auffassung, dass es eine solche Doppelbesetzung aus Lehrkraft und Sonderpädagoge immer und nicht nur zeitweilig geben sollte. Während im Bundesdurchschnitt mit 46 Prozent fast die Hälfte der Lehrerinnen und Lehrer an Schulen mit inklusiven Lerngruppen angibt, dass es an ihrer Schule eine Doppelbesetzung aus Lehrkraft und Sonderpädagoge gibt, meinen dies nur 19 Prozent der Lehrkräfte in Bayern.

Nach Angaben von 29 Prozent der Lehrkräfte an Schulen mit inklusiven Lerngruppen in Bayern (gegenüber 36 Prozent im Bundesgebiet insgesamt) gibt es an ihrer Schule ein multiprofessionelles Team. 66 Prozent berichten, dass es an ihrer Schule kein multiprofessionelles Team gibt. 28 Prozent der Lehrkräfte in Bayern, die an Schulen mit inklusiven Klassen unterrichten, in denen Mitglieder des multiprofessionellen Teams zur Verfügung stehen, berichten, dass diese Form der Unterstützung durchgängig oder zeitweilig an jedem Schultag zur Verfügung steht.

An 27 Prozent der Schulen steht die Unterstützung durchgängig oder zeitweilig an ausgewählten Schultagen zur Verfügung. 23 Prozent – und damit etwas mehr als im Bundesgebiet insgesamt - geben an, dass das Personal aus dem multiprofessionellen Team nach Bedarf zur Verfügung steht.

67 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer in Bayern, die an Schulen mit inklusiven Lerngruppen unterrichten, geben an, dass an ihrer Schule eine Schulpsychologin oder ein Schulpsychologe zur Verfügung steht – im Bundesgebiet insgesamt beträgt dieser Anteil nur 18 Prozent. Zwei Drittel der bayerischen Lehrkräfte an Schulen mit inklusiven Lerngruppen berichten, dass ihre Schule von einer sozialpädagogischen Fachkraft unterstützt wird. Eine Erziehern oder ein Erzieher steht an 21 Prozent der Schulen zur Verfügung. Nur in 7 Prozent der Fälle wird die Schule (auch) durch eine medizinische Assistenz unterstützt.

Mangelnde Barrierefreiheit an den Schulen

Im Hinblick auf die Barrierefreiheit geben nur 25 Prozent der Lehrkräfte in Bayern an, dass ihre Schule für Schulkinder mit einer Behinderung vollständig barrierefrei ist. Allerdings ist dieser Anteil gegenüber den vorherigen Befragungen etwas gestiegen und liegt auch über dem Bundesdurchschnitt. 39 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer in Bayern geben an, dass ihre Schule nahezu barrierefrei ist. In 36 Prozent der Fälle ist die eigene Schule hingegen überhaupt nicht barrierefrei.

Danach gefragt, welche Räumlichkeiten an ihrer Schule zur Verfügung stehen, geben 84 Prozent der befragten Lehrkräfte in Bayern an, dass ihnen Beratungszimmer zur Verfügung stehen. In gut zwei Drittel der Fälle (64 %) gibt es (auch) barrierefreie Sanitäranlagen. An 53 Prozent der Schulen stehen Räume für Kleingruppen zur Verfügung. 49 Prozent der Lehrkräfte geben an, dass an ihrer Schule Differenzierungszimmer, 45 Prozent, dass Lehrkräftearbeitszimmer vorhanden sind. 27 Prozent sagen, dass an ihrer Schule Arbeitsplätze für Sonderpädagogen zur Verfügung stünden. Schallgeschützte Räumlichkeiten sind nur an 16 Prozent, Lernbüros an 8 Prozent der Schulen vorhanden.

Große Klassen und wenig Vorbereitungszeit

Lehrkräfte in Bayern, die an Schulen mit inklusiven Lerngruppen unterrichten, geben die Zahl der Kinder in diesen Gruppen im Durchschnitt mit 21 Kindern an (im Bundesgebiet insgesamt sind es demgegenüber 19 Kinder pro Klasse). Die Zahl der Kinder in diesen Gruppen mit sonderpädagogischem Förderbedarf wird im Schnitt mit 3 Kindern angegeben.

20 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer in Bayern, die an Schulen mit inklusiven Lerngruppen unterrichten, geben an, dass die Klassengröße von inklusiven Klassen im Vergleich zu nicht-inklusiven Klassen verkleinert worden ist. Drei Viertel der Lehrerinnen und Lehrer sagen hingegen, dass die Klassengröße beibehalten worden ist. Der Anteil derjenigen, die angeben, dass die Klassengröße von inklusiven Klassen im Vergleich zu nicht-inklusiven Klassen sich nicht veränderte, ist gegenüber der Befragung im Jahr 2017 gestiegen und liegt deutlich über dem Bundesdurchschnitt.

82 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer in Bayern, die an Schulen mit inklusiven Lerngruppen unterrichten, geben an, dass die Lehrkräfte nur wenige Wochen (55 %) oder noch weniger (27 %) Zeit hatten, um sich auf das inklusive Unterrichten vor- zubereiten. 8 Prozent geben an, dass die Lehrkräfte mehrere Monate oder länger dafür Zeit hatten. Dass sie höchstens wenige Wochen oder wenigen Zeit hatten, um sich auf das inklusive Unterrichten vorzubereiten, geben die Lehrkräfte in Bayern noch häufiger als im Bundesdurchschnitt an.

Austausch außerhalb institutionalisierter Strukturen und der Arbeitszeiten

An 23 Prozent der Schulen mit inklusiven Lerngruppen in Bayern, in denen ein Austausch zu den Herausforderungen inklusiven Unterrichts stattfindet, findet dieser in institutionalisierten Koordinationsstrukturen statt. In 12 Prozent der Fälle gibt es für diesen Austausch feste Zeiten innerhalb der Arbeitszeit.

25 Prozent der bayerischen Lehrkräfte an Schulen mit inklusiven Lerngruppen (gegenüber nur 12 Prozent im Bundesgebiet insgesamt) geben an, dass es an ihrer Schule Maßnahmen zur Unterstützung bei der Bewältigung von möglichen physischen oder psychischen Belastungen durch die inklusive Unterrichtung gibt. Unverändert gut drei Viertel (72 %) stehen keine Unterstützungsmaßnahmen bei Belastungen durch die inklusive Unterrichtung zur Verfügung.

Besonders negative Auswirkungen der Corona-Pandemie für Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf

Die befragten Lehrkräfte wurden abschließend anhand einzelner Aussagen um ihre Einschätzungen zum Umgang mit Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf während der Corona-Pandemie gebeten.

Vier Fünftel der Lehrkräfte in Bayern sind der Ansicht, dass jede Schule ad hoc Unterstützung durch multiprofessionelle Teams benötigt, um die individuelle Förderung aller Schülerinnen und Schüler zu fördern. 57 Prozent der Lehrkräfte stimmen dieser Aussage sogar voll und ganz zu. 69 Prozent meinen, dass die Einschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie für die Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf einen Rückschritt bewirkt haben, weil der Alltag nicht mehr geteilt wurde. 59 Prozent sind der Auffassung, dass es während der Schulschließungen nicht gelungen sei, Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf ausreichend zu fördern. Nach Meinung von 56 Prozent wurden Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf bei den Schulschließungen in den Vorgaben der Kultusministerien (nahezu) vergessen.

-> Die Ergebnisse der forsa-Umfrage aus Bayern zum Download und aus Deutschland zum Download

-> Pressemitteilung des BLLV: "Inklusion muss endlich umgesetzt werden. Warme Worte reichen nicht, es geht um Handeln!"


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