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Ist „Üben“ gleich „Drill“? Ein Expertengespräch über die Zukunft der Grundschule!

Aktuelle Erhebungen wie der IQB-Bildungstrend sollten ein Weckruf sein! Grundschülerinnen und Grundschüler scheitern immer mehr an Basiskompetenzen. „Die ZEIT“ führte dazu ein Expertengespräch mit Prof. Dr. Felicitas Thiel, Frank Wagner und Simone Fleischmann.

18,8 Prozent der Grundschüler in Deutschland verfehlen die Mindestanforderungen im Bereich Lesen. Sogar 30,4 Prozent sind es bei der Rechtschreibung. 21,8 Prozent in Mathematik. Das ergab nicht zuletzt der aktuelle IQB Bildungstrend vom Oktober 2022. Im neuen Gutachten „Basale Kompetenzen vermitteln – Bildungschancen sichern. Perspektiven für die Grundschule“ empfiehlt die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) Maßnahmen zur Weiterentwicklung der Grundschule. Es empfiehlt Lehrerinnen und Lehrern unter anderem, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Lesen üben, Schreiben üben, Rechnen üben!

Bedeutet das eine Abkehr von „modernen“ Lehrmethoden und eine Rückkehr zum alten Drill? Nein! Oder „Nein – muss es nicht bedeuten“. Zumindest nicht, wenn das Üben richtig verstanden, gewertet und eingebettet wird. Die ZEIT führt dazu in Ihrer Ausgabe vom 16. Dezember ein Expertengespräch. Es wurde ein Austausch über moderne Pädagogik, Lehrkräftefortbildung, digitale Tools im Unterricht, Lehrkräftemangel und Multiprofessionalität in der Schule. Die Redakteure waren Jeannette Otto und Martin Spiewak. Die Gesprächspartner und -partnerinnen waren Prof. Dr. Felicitas Thiel, Frank Wagner und BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann (Die online Version des Beitrags ist als Zeit+ Artikel abrufbar auf Zeit.de).

Methodenvielfalt statt Schubladendenken

Prof. Dr. Felicitas Thiel ist Professorin für Schulpädagogik und Schulentwicklungsforschung an der Freien Universität Berlin und Co-Vorsitzende der SWK. Frank Wagner ist seit 14 Jahren Schulleiter der Gebrüder-Grimm-Schule in Hamm, die 2019 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurde. Es wurde kein Streitgespräch – trotz schwieriger Fragen. Denn man war sich einig: Das „Üben“ ist nicht altmodisch und es muss auch nicht langweilig sein. Ganz im Gegenteil: Adaptives Trainieren ist der Schlüssel zum Erfolg! Simone Fleischmann im Interview: „Ich habe als ehemalige Schulleiterin viel Unterricht beobachtet. Da sieht man zum Teil Lehrkräfte, die zünden ein Feuerwerk an innovativen Unterrichtsmethoden und packen einen ganzen Koffer mit didaktischem Material vor den Kindern aus. Worum es in dieser Stunde aber eigentlich gehen soll, versteht man oft nicht. Den Kindern wird gar nicht klar, was das Ziel einer solchen Stunde sein soll. Und das Üben kommt da meist zu kurz. Dabei ist Üben absolut notwendig und nicht altmodisch.“ Sie sagte aber auch – und hier war sich die Runde ebenfalls einig: „Es darf jetzt auf keinen Fall heißen: ‚Schluss mit Projekten, Freiarbeit oder dem Firlefanz vom Stationenlernen‘. Nein, die Methodenvielfalt macht’s!“

Üben mit Spaß und Freude am Erfolg

Klar ist auch, dass das Üben selbst ebenfalls kein Drill sein muss. Prof. Dr. Felicitas Thiel: „[…] Üben muss kein Drill sein. Und wenn ein Kind nach vielen Versuchen etwas kann, ist das durchaus befriedigend. Ebenso kann es großen Spaß bringen, gemeinsam im Chor zu lesen […].“ Und Frank Wagner ergänzt: „Wenn wir unsere Mathe-Trainings machen, ist das auch kein stures Rechnen. Es geht da nicht ums Auswendiglernen von Regeln, sondern ums Verstehen. Kinder sind nur dann motiviert, etwas zu lernen, wenn sie merken, dass es nützlich ist. Im ersten Schuljahr ist das gar nicht leicht.“ Stichwort „leicht“: Ist also alles gut? Üben wir einfach wieder mehr an den Schulen? So einfach ist es nicht!

Also „Einfach mehr üben“?

In Deutschland gibt es laut Frau Professor Thiel eine starke reformpädagogische Tradition, mit einer großen Sympathie für offenen Unterricht und Skepsis gegenüber einer starken Lehrerrolle. Dabei brauche es auch die direkte Instruktion, schlüssige Erklärungen und vor allem: klares Feedback. Die Lehrkraft hat eben mehrere Rollen: Coach sein genauso wie Fachkraft und  Orientierungsgeber mit einem klaren Plan und einem klaren Ziel für jedes einzelne Kind. Deutlich wird im Gespräch aber auch, dass der lehrkraftgeleitete Unterricht nicht per se eine bessere Qualität hat. Das Gespräch wurde auch zum Anlass, viele der aktuellen Diskussionen der Bildung(spolitik) aufzugreifen: Welche Rolle spielen Leistungserhebungen? Müssen wir anderswo streichen, um Zeit zu haben, die Basiskompetenzen zu üben? Wo helfen digitale Tools? Wie werden Ressourcen verteilt und wie und wo bekommen wir mehr Lehrkräfte an die Schulen?

Lernstandserhebungen ja, aber richtig!

Lernstandserhebungen sind wichtig! Simone Fleischmann: „Wenn Lehrkräfte gezielt auf die Kinder eingehen wollen, müssen sie wissen, wo deren Stärken und Schwächen liegen. Insofern ist niemand gegen regelmäßige Lernstandserhebungen. […] Und: Nach der Diagnose muss die Förderung kommen. Weil die aber aufgrund fehlender Ressourcen oft ausbleibt, sind die Lehrkräfte kritisch.“ Gar nicht so einfach ist dabei auch die Frage, was man mit den Daten von Lernstandserhebungen anfängt – gerade wenn es sich um digitale Erhebungen handelt. Tools wie „quop“ helfen bei der Diagnostik, erfordern aber auch wieder spezielle Fähigkeiten der Lehrkräfte. Denn Daten seien eben noch keine Instrumente, wie Frank Wagner betont. Womit wir wieder beim Thema gezielter Fortbildungen wären, wofür oft die Zeit und die richtigen Angebote für die Lehrkräfte fehlen.

Kein entweder – oder! Und kein neues „Streichkonzert“

Einig war sich die Runde auch, dass intensiveres Üben nicht auf Kosten anderer Inhalte gehen darf. Musik ausfallen lassen, um Mathe zu üben? Auf keinen Fall! Einfache Lösungen gibt es dafür nicht – Ansätze aber schon und hier brauchen Lehrkräfte Ideen und Gestaltungsspielräume. Frank Wagner: „Aus meiner Erfahrung kann ich nur sagen, dass es nicht einfach ist, sich jeden Tag eine halbe Stunde Training für die Basiskompetenzen aus der Unterrichtszeit herauszuschneiden. Ich meine, wir sollten inhaltliche Prioritäten setzen. Dann entscheiden wir eben, dass wir das Thema Wörtliche Rede statt drei Wochen nur eine behandeln, und die Kinder speichern die Regeln dafür in ihrer Lerncloud ab.“ Klar war damit auch, dass trotzdem vieles an den Ressourcen hängt.

Auch den Redakteuren der ZEIT ist bewusst, dass am Ende vieles davon abhängt, ob es genug Lehrkräfte gibt – gerade für die Schulen mit vielen Kindern, die besonders viel Unterstützung brauchen und multiprofessionelle Teams aus Lehrkräften, Sozialarbeitern und Psychologen. Der Lehrkräftemangel lässt sich eben nicht wegdiskutieren. Hilft hier eine leistungsgerechte Bezahlung mit finanziellen Anreizen, wie kürzlich auch von Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger gefordert? Simone Fleischmann hat das Schlusswort: „Lehrerinnen und Lehrer brauchen wie alle Menschen Wertschätzung. Und Prämien bedeuten eben auch Anerkennung. Ob Boni aber die zentrale Stellschraube für eine höhere Attraktivität des Lehrberufs sind, wage ich zu bezweifeln.“
 

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