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„Notensammelwut“ ist nicht gleich Bildungsqualität

Die Süddeutsche Zeitung analysiert mit Blick auf die anstehenden Prüfungen die Entwicklung der Abiturnoten – und hinterfragt vermeintliche Gewissheiten des bayerischen Bildungssystems.



Der nachfolgende Artikel bezieht sich auf den Kommentar von Paul Munzinger, der am 27. April 2022 in der Süddeutschen Zeitung erschien: „Abitur: Mehr lernen aus der Pandemie“



Wer in Bayern dieser Tage Abitur macht, hat die dafür wichtige Zeit der Oberstufe hauptsächlich unter Corona-Bedingungen erlebt. Das heißt, je nach Schule in unterschiedlichem Ausmaß: Schulschließungen, Distanzunterricht, Wechselunterricht, Quarantäne, soziale Einschränkungen, Unsicherheiten und mitunter große Verunsicherungen.

Diese Nachteile versucht die Politik unter anderem durch zusätzliche Bearbeitungszeit bei den Prüfungen auszugleichen. Denn das bayerische Kultusministerium wird nicht müde, bei der Frage nach der Fairness des Corona-Abiturs auf die guten Abschlüsse der letzten beiden Jahre hinzuweisen.

„Enges Korsett von Prüfungen und Noten“

Bildungsexperte Paul Munzinger von der Süddeutschen Zeitung analysiert aber in seinem Kommentar „Mehr lernen aus der Pandemie“ weitere Gründe: Die Reduzierung der Klausurenanzahl in der Oberstufe hat Schülerinnen und Schülern mehr Zeit für die Vorbereitung auf die Abiturprüfungen verschafft. Deswegen dürfe man aber nicht – wie öffentlich leider vielfach geschehen – eine Diskussion um vermeintliche „Noteninflation“ vom Zaun brechen, sondern man müsse sich vielmehr fragen, was daraus folgt, dass weniger Bewertung zu besseren Leistungen führt:

„Corona hat auch deutlich gemacht, dass Noten und Prüfungen in der Schule eine zu große Rolle spielen“, schreibt Munzinger und führt aus: „Schüler werden buchstäblich über-bewertet. Lehrer mussten in den vergangenen zwei Jahren erleben, dass es nicht der Lehrplan ist, der sie einschnürt und ihnen die Freiheit nimmt, auf die Herausforderungen der Pandemie flexibel zu reagieren. Sondern das enge Korsett von Prüfungen und Noten.“

Was haben Kinder und Jugendliche in den letzten zwei Jahren alles „geleistet“?

Auch der BLLV weist immer wieder darauf hin, dass „Learning for the test“ meilenweit von den Erkenntnissen heutiger Pädagogik und Erziehungswissenschaft entfernt ist und gelingende Bildung ein zeitgemäßes Verständnis von Lernen und Leistung braucht – erst Recht unter Corona-Bedingungen. Was Kinder und Jugendliche gerade in den letzten zwei Jahren der Pandemie gelernt und geleistet haben, ist enorm: Sie mussten Situationen bewältigen, mit denen keine Generation vor ihnen konfrontiert war.

Diese Leistung wird aber von den gängigen Rückmeldungssystemen nicht adäquat abgebildet. Dass am Ende dennoch Abiturnoten zu Buche stehen, auf die auch bayerische Politiker stolz verweisen, hat also wohl viel damit zu tun, dass zuvor Räume jenseits des üblichen Prüfungswahns geschaffen wurden, die sonst nicht offen standen.

Bildung verfassungsgemäß denken

Kommentator Paul Munzinger folgert: „Die Notensammelwut einer strengen Prüfung zu unterziehen, ist ein Auftrag der Pandemie an die Kultusministerien. Und das Abitur zeigt: Das muss nicht auf Kosten des Anspruchs gehen.“

Würde es nun also gelingen, Räume, die durch Reduzierung dieser „Notensammelwut“ entstehen, nicht nur für selbstbestimmtes Lernen zu nutzen, sondern auch für eine ganzheitliche Bildung, die die individuelle Entwicklung jedes einzelnen Schülers und jeder einzelnen Schülerin in den Mittelpunkt stellt, dann wäre das erreicht, was die bayerische Verfassung in Artikel 131 als oberstes Bildungsziel ausgibt: „Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.“

Die Erfahrung zeigt, dass ein anderer Umgang mit Leistungsrückmeldung für beides sorgen könnte.

» zum Kommentar von Paul Munzinger auf sueddeutsche.de