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Akzente - 4/2022 Startseite
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Sie nannten ihn Tom

Beobachtungen, wie Menschen im Alltag Ablehnung erleiden, wenn sie zu ihrer Herkunft, ihrer Sprache, ihrer Identität stehen: Alltagsrassismus und Menschen zweiter Klasse? Da muss unsere Gesellschaft heute weiter sein, findet Simone Fleischmann.

Eine Freundin hat mich zum Kaffee eingeladen. Die Familie lebt im Osten von München. Sie haben zwei Kinder. Sie und ihr Mann arbeiten hart und müssen zusätzlich zu ihrem Beruf noch abends und am Wochenende einem Nebenjob nachgehen, damit es reicht. Ich bin gespannt, wie es ihnen so geht. Als ich zur Tür reinkomme, stürzt sich meine Freundin auf mich. Ihr Sohn, dritte Klasse, hat eine Vier in Mathe. Das kann doch nicht sein, Simone! Der ist doch immer so gut gewesen in Mathe. Was soll ich nur machen? Ich hab jetzt eine Nachhilfelehrerin engagiert. Und eine Legasthenie soll er haben. Ich merke, an diesem Sonntagnachmittag wird es eher ein ernsthaftes Beratungsgespräch als ein gemütlicher Kaffeeklatsch.

Aber um was geht es da eigentlich? Wohl kaum um eine Legasthenie. Und kaum um das erste „Ausreichend“ in Mathematik. Dieser Junge ist ein Blitzgescheiter. Spricht zwei Sprachen, Deutsch und Polnisch. Nein, es geht um einen Jungen, der nicht glücklich ist. Jetzt freut er sich, dass ich da bin. Er bringt seinen Schulranzen und zeigt mir seine Stifte, Bücher und Hefte. Ich nehme ein Heft zur Hand – und bin verwirrt. Auf dem Umschlag steht: „Tom“. Ist das nicht sein Heft? Er heißt doch Kazimierz? Mich haut so schnell nichts um, aber seine Erklärung gibt mir einen Stich ins Herz: Kazimierz, das ist so ein schwieriger Name, sagten seine Eltern, für die Schule nennen wir dich einfach Tom.

Die Ursache all der Probleme dieses „Tom wider Willen“? Bestimmt keine Teilleistungsstörung wie Legasthenie. Keine hysterische Mutter, die Angst hat, dass ihr Sohn nicht aufs Gymnasium kommt. Auch keine Lehrerin, die einen falschen Beurteilungsschlüssel auflegt. Eher das: Wer seine Identität verstecken muss, kann nicht glücklich werden. Und wer nicht sein kann, wer er eigentlich ist, wird weder in der Schule noch im Leben bestehen. Ich weiß irgendwie immer weiter, aber da bin ich sprachlos. Ich kann doch jetzt der Freundin nicht raten, besteht halt drauf, dass man ihn beim richtigen Namen nennt. Kazimierz ist schon in den Brunnen gefallen.

Momente des Alltagsrassismus

Wie es dem Jungen hier in Bayern einmal ergehen könnte, wenn er erst erwachsen ist, habe ich kurz nach diesem denkwürdigen Sonntagsbesuch erlebt. Wieder hab' ich mich gefühlt wie im falschen Film: Ein Freund, polnischsprachig wie Kasimierz, liegt im Krankenhaus, Fünf-Bett-Zimmer. Als ich ihn besuche und höre, auf welche Art und Weise sich die Männer hier im Zimmer unterhalten, habe ich den Eindruck, dass man als Nicht-Deutscher in einer solchen Atmosphäre wirklich nicht gesund werden kann. Das sieht er auch so und wirkt niedergeschlagen.

Peter, nein Piotr, bittet mich nachzufragen, ob er nicht in ein anderes Zimmer verlegt werden könnte. Er hat schon mehrfach drum gebeten, in gebrochenem Deutsch. Ich stoppe die Stationsschwester auf dem Gang und sage ihr in klarem Bairisch, dass es schön wäre, wenn „da Peda“ in ein anderes Zimmer käme. Sie antwortet: Ja freilich, wir schauen, was wir machen können! Am nächsten Tag liegt Piotr in einem anderen Zimmer mit nur zwei Bettnachbarn. An diesem Tag hat er eine andere Wertigkeit. Seine eigene – und irgendwie hat er was von meiner abbekommen. Wie schlimm ist das denn! Da kommt die g'standene Frau aus Bayern, haut einmal auf den Tisch, und erst dann wird ein Mensch so behandelt, wie es eigentlich alle verdient hätten.

Und dann noch die Situation an der Tankstelle: Ein anderer nicht-deutscher Freund von mir wird an der Lotto-Abgabe angepöbelt, weil er den Schein nicht schnell genug ausfüllt. Er versteht nicht, was die Leute hinter ihm schimpfen. Er versteht aber eines: Die mögen mich nicht. Nur weil ich nicht genau weiß, wie man diesen Schein ausfüllt. Weil ich Ausländer bin, weil ich ihre verdammt schwere Sprache nicht richtig spreche.

Solche Momente des Alltagsrassismus sind es, die mich aufhorchen lassen. Wir in den Schulen sollen Kinder und Jugendliche zur Toleranz erziehen. Wir sollen sie alle gleichermaßen annehmen. Wir sollen Vorbilder sein – Kinder für die Gesellschaft von morgen bilden. Aber was für eine Gesellschaft ist denn bitt'schön die heutige?

Mir schwant Übles: Müssen wir jetzt in diesen Kriegs- und Krisenzeiten vielleicht nochmal durchmachen, was wir bei der Integration der syrischen Flüchtlinge ab 2015 erlebt haben? Ein einziges Hin- und Hergeschubse war das. Oder sind es diesmal andere Flüchtlinge, irgendwie wertvollere? Widerlich: Da gäbe es also die einen Flüchtlinge und die anderen.

Das darf doch alles gar nicht wahr sein! Wir leben doch in einer bunten und offenen Gesellschaft. Wir leben doch in einer toleranten Gesellschaft. Oder nicht?
 

Artikel aus der bayerischen schule #4/2022



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