Inklusion braucht Pflege
Die Befürworter des radikalen gemeinsamen Lernens werden mehr. Erstaunlicherweise, denn eine neue Studie zeigt: Mit ihrem Engagement werden die Lehrerkräfte nach wie vor weitgehend allein gelassen. Es fehlt unterstützendes Fachpersonal – und Hilfe bei Überlastungsstörungen.
Ein Fachkommentar von Wolfram Schneider*
Trotz widriger Bedingungen hält die Mehrheit der bayerischen Lehrkräfte ein gemeinsames Lernen aller Kinder für sinnvoll - und ist bereit, sich den Herausforderungen zu stellen. Einer forsa-Studie im Auftrag des VBE vom Mai 2017 unter Lehrkräften der Regelschulen zufolge ist der Anteil der Befürworter von Inklusion binnen zwei Jahren sogar um vier Prozentpunkte gestiegen (von 49 auf 53).
Der Teil der Lehrerschaft, der Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf lieber an Förderschulen sähe, ist im selben Zeitraum von 50 Pro zent auf 43 Prozent gesunken. Mittlerweile besucht rund ein Viertel aller 74.000 Kinder und Jugendlichen mit Förderbedarf Regelschulen (2007: 17 Prozent von 71.700). Bundesweit liegt der Anteil allerdings immer noch deutlich höher (508.000 beziehungsweise 31 Prozent).
Die Studie fragte unter anderem nach Argumenten, die für und gegen die Umsetzung von Inklusion in den Regelschulen sprechen. Zu den Vorteilen für ein gemeinsames Lernen gehören aus Sicht der Lehrkräfte die Förderung von Toleranz (32 Prozent) oder von sozialen Kompetenzen (30 Prozent) der Schülerinnen und Schüler, sowie ein soziales, ein Voneinander-Lernen (26 Prozent). Bei der Frage nach den Argumenten, die gegen gemeinsamen Unterricht sprechen, werden insbesondere solche genannt, die sich auf die Ausstattung der Schulen und die Qualifizierung des Personals beziehen.
Inklusion kann nur mit multiprofessionellen Teams gelingen. Praktisch alle Lehrkräfte in Bayern wie im Bundesgebiet (jeweils 97 Prozent) sind der Auffassung, dass es in inklusiven Schulklassen eine Doppelbesetzung aus Lehrkraft und Sonderpädagoge geben sollte. Dieses Tandem sollte es aus Sicht der Lehrpersonen nicht nur zeitweilig geben, sondern die personelle Ausstattung, die von der bayerischen Staatsregierung für die gemeinsame Unterrichtung von Schülern mit und ohne Behinderung zur Verfügung gestellt wird, bewertet die Mehrheit der Lehrer in Bayern als mangelhaft oder ungenügend (61 Prozent).
Insgesamt vergeben die Lehrkräfte für die personelle Ausstattung für den inklusiven Unterricht in Bayern die Durchschnittsnote 4,7. Die Bewertung fällt damit unter den bayerischen Lehrerinnen und Lehrern nur geringfügig „besser“ aus als im Bundesgebiet insgesamt (Note 4,9). Lediglich 7 Prozent der Lehrkräfte in Bayern beurteilen das Fortbildungsangebot zur Vorbereitung auf die Arbeit mit inklusiven Schulklassen als (sehr) gut, 20 Prozent als befriedigend und 18 Prozent als ausreichend. Insgesamt vergeben die Lehrerkräfte in Bayern für das Fortbildungsangebot in ihrem Bundesland die Durchschnittsnote 4,2. Damit wird die Situation im Hinblick auf das Fortbildungsangebot in Bayern (wenngleich auf niedrigem Niveau) etwas weniger schlecht bewertet als im Bundesgebiet insgesamt (Note 4,4).
Unterstützung bei Überbelastung gibt es kaum
Die Mehrzahl der bayerischen Lehrerkräfte (53 Prozent), die an Schulen mit inklusiven Lerngruppen unterrichten, gibt an, dass sie nur „eine bis wenige Wochen“ Zeit hatten, um sich auf das inklusive Unterrichten vorzubereiten. Der geringe Grad der Vorbereitung auf inklusiven Unterricht zeigt sich auch bei der Frage nach verschiedenen Maßnahmen: „Ist Ihre Schule für Kinder mit einer Behinderung barrierefrei?“ Nur 19 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer in Bayern gaben an, dass das der Fall ist (bundesweit 16 Prozent). Von denjenigen, die angeben, dass ihre Schule nicht vollständig barrierefrei ist, glauben 51 Prozent, dass eine barrierefreie Gestaltung der Schule zu vertretbaren Kosten möglich wäre. 37 Prozent der bayerischen Lehrkräfte glauben dies nicht.
Inklusion stellt Lehrkräfte im Schulalltag oft vor gewaltige Anforderungen und Herausforderungen, weil die Rahmenbedingungen für die Umsetzung nicht stimmen. Das kann dazu führen, dass sie sich allein gelassen und überfordert fühlen, was wiederum Belastungsstörungen hervorrufen kann. Allerdings sagen nur 8 Prozent der Befragten aus, dass es Unterstützung bei der Bewältigung von möglichen physischen und psychischen Belastungen durch die inklusive Unterrichtung gibt.
*Zur Person
Dr. Wolfram Schneider ist wissenschaftlicher Referent im BLLV.