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Arbeitsbedingungen Schülerzentriert

Musikunterricht: „Die Welt ist nicht so rosarot wie das Kultusministerium behauptet“

Die Kürzungen, um mehr Mathe und Deutsch zu unterrichten, haben an den meisten Grundschulen den Musikunterricht halbiert. BLLV-Präsidentin Fleischmann warnt: Das hat dramatische Folgen für die Entwicklung der Kinder – und zwar in allen Fächern!

Spielt die Staatsregierung mit dieser Entscheidung ein „Requiem für den Kunst- und Musikunterricht“? Diese Frage stellt der Podcast „Kulturleben“ des Bayerischen Rundfunks, nachdem der Präsident des Bayerischen Musikrates, Bernd Sibler (CSU), früher selbst Kultus- und Kunstminister, bekannt gegeben hat, dass die PISA-Offensive des Kultusministeriums für mehr Deutsch- und Mathestunden an den Grundschulen vor allem zulasten des Musikunterrichts geht:

„Aus den uns vorliegenden Informationen des Kultusministeriums und aus eigenen Umfragen geht hervor, dass die Anzahl der Musikstunden in der dritten und vierten Klasse in 80 % der Grundschulen quasi halbiert wurde von je zwei Musikstunden in der dritten und vierten Klasse in der alten Grundschulstundentafel auf eine Musikstunde in der dritten und vierten Klasse im Rahmen der neuen Stundentafel.“

Augenwischerei

Sibler räumt dabei auch mit der beschönigenden Darstellung des Kultusministeriums auf, man habe den Schulen Freiraum dabei eingeräumt, welche „Schwerpunkte“ sie setzen, je nach Räumlichkeit, Ort und Personalsituation: „Wenn jetzt gesagt wird, dass das die Entscheidung der Schulen selbst sei, ist das nicht richtig. Denn es wurde eine neue, höhere Vorgabe für die Zahl der deutschen Mathestunden gemacht. Diese Stunden konnten nur bei der Musik weggenommen werden. Werk und Gestalten war und ist immer noch zweistündig. Kunst war vorher und ist immer noch einstündig.“

BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann ärgert sich als Expertin im Podcast doppelt über diese Augenwischerei der Staatsregierung: „Ich war selber 15 Jahre Schulleiterin. Das kann ich alles machen: Profile bilden, Schwerpunkte, setzen – wenn ich aus dem Vollen schöpfe. Wenn ich aber aus einem Fass schöpfe, wo nichts mehr drin ist, wo soll ich denn dann flexibel sein? Das ist ja genau unsere Not. Mich ärgert das, weil die Hörerinnen und Hörer meinen doch jetzt glattweg, es liegt am Schulleiter vor Ort.“

Leistung in den Kernfächern wird nicht nur über die Kernfächer erreicht

Die Zahlen des Präsidenten des Musikrates findet Fleischmann alarmierend: „Herr Sibler war Kultusminister, er weiß genau, von was er spricht. Das ein eindeutiges Zeichen, wo die Kolleginnen und Kollegen kürzen müssen. Nicht, weil wir kürzen wollen.“

Aus Sicht des BLLV ist ganzheitliche Bildung mit Herz, Kopf und Hand kein Selbstzweck, sondern eben deswegen so wichtig, weil sie nachgewiesen auf die Leistung in allen Bereichen einzahlt: „Jeder weiß, wie wichtig die kulturelle Bildung ist“, betont Präsidentin Simone Fleischmann. „Wir wissen alle, wie sehr sie zur Persönlichkeitsentwicklung beiträgt. Wir sind als Pädagoginnen und Pädagogen nicht diejenigen, die verkennen, dass Deutsch nicht wichtig ist. Aber wir müssen ehrlich sein! Und die Politik ist nicht ganz ehrlich: Wenn der Fokus zum Beispiel auf Deutsch liegt, sagt natürlich jeder Bürger, natürlich, die Kinder müssen erst mal richtig Deutsch können. Ja, das ist richtig. Aber die Kinder, die nicht gut Deutsch können, profitieren dabei doch von Sport, von Musik und von Kunst. Ein Schüler, der wunderbar singen kann, aber nicht so gut in Deutsch ist, oder ein cooler Fußballer, der drei Tore geschossen hat in der dritten, vierten Stunde, ist anschließend besser. Das ist ein Transfereffekt und so wird ein Schuh draus.“

Auch Astronauten brauchen Resilienz

Zudem erwerben junge Menschen mit musischer Bildung Zukunftskompetenzen, die sie dringend benötigen: „Wir müssen uns fragen, was der Wert von Schule ist“, appelliert Simone Fleischmann. „Wenn in der vierten Klasse die 2,33 oder die 2,66 zählen, dann zählen drei blanke Noten. Aber wir wissen hier in unserem Talk, und die Gesellschaft weiß es auch, dass es noch ganz andere Werte gibt: Resilienz, sozialer Zusammenhalt, die gesellschaftliche Teilhabe über eben genau diese Fächer! Ja, die MINT-Fächer sind auch wichtig, weil wir wollen zum Mond fliegen. Aber wir brauchen eben auch Menschen, die eine gute, resiliente Persönlichkeitsentwicklung hinter sich haben. Und zwar alle!“

Umso ärgerlicher ist aus Sicht des BLLV, dass die Staatsregierung offensichtlich faktische Kürzungen als Gewinn von Gestaltungsfreiräumen der Schulen zu verkaufen versucht. Denn spätestens durch den Personalmangel bleibt den Schulen eben letztlich kaum eine andere Wahl, als im musischen und gestalterischen Bereich zu kürzen, um den Erwerb der wichtigen Kernkompetenzen leisten zu können: „Eigentlich dürfen wir das eine nicht gegen das andere ausspielen“, mahnt Präsidentin Simone Fleischmann. „Wir müssten es auch gar nicht ausspielen, wären wir nicht in einer Mangelsituation. Wir wissen ja, der Mensch ist mehr als Mathematik, Deutsch und Englisch. Ich weiß aber auch, dass es keine Chance gibt, wenn kein Musiklehrer vor Ort ist, wenn Werken nicht durch einen Fachlehrer stattfinden kann. So etwas wie Big Band, Jazz und Theater war in den Grundschulen in den letzten Jahren Mangelware. Wahlkurse und AGs waren Fremdwörter, weil wir seit Jahren Lehrermangel haben: Die Tischdecke ist zu eng und egal an welcher Ecke man zieht, es reicht nicht. Die Realität ist nicht so rosarot wie das Kultusministerium behauptet.“

Der BLLV steht weiter für echte ganzheitliche Bildung

Zwar bekennen sich Staatsregierung und Ministerien in Sonntagsreden inzwischen durchaus ebenfalls zum Ideal ganzheitlicher Bildung. Damit diese aber tatsächlich bei den Kindern ankommt, braucht es eine vernünftige Versorgung mit Personal und bessere Arbeitsbedingungen, die mehr Nachwuchs in den Lehrberuf ziehen. Und eben keine Taschenspielertricks, die Ideale nur vorgaukeln, faktisch aber zu Kürzungen genau da führen, wo Ganzheitlichkeit gelebt werden müsste. 

„Ganzheitliche Bildung braucht ganze Menschen, ganze Lehrer“, stellt BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann abschließend klar. „Die Lehrer werden gebraucht, vom kleinen Zeh bis zur Haarspitze: Wir wollen empathische, kreative, konstruktive Demokraten erziehen. Wir haben so viel mehr in dieser demokratischen Gesellschaft, das wir leisten müssen. Insofern freue ich mich, dass viele Menschen die kulturelle Bildung nicht vergessen. Wir tun es nicht! Wir im BLLV haben diesen ganzheitlichen Bildungsbegriff!“

» zum BR2-Podcast Kulturleben: „Requiem für den Kunst- und Musikunterricht?“
 

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