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Phänomenologisches Lernen Leistungsrückmeldung Kompetenzorientierung

Werteerziehung: Kernauftrag von Schule klar festlegen

Die Forderung nach Demokratie- und Wertebildung in Schulen ist aktuell laut – bei gleichzeitig akutem Lehrermangel und Defiziten in Basiskompetenzen. Im Gespräch mit news4teachers fordert Simone Fleischmann einen neuen Konsens, was Schule leisten soll.

Mehr Bildung, so lautet häufig die reflexartige Antwort, wenn sich gesellschaftliche Probleme zeigen. Im Kern zwar oft richtig, aber ein Schullalltag ist eben nicht unendlich lang. Im bestehenden System ständig neue Fächer dazu nehmen, das ist eine scheinbar einfache Lösung, aber in der Praxis unmöglich, wie Simone Fleischmann, BLLV-Präsidentin und stellvertretende Bundesvorsitzende des Dachverbands VBE (Verband Bildung und Erziehung) im ausführlichen Gespräch mit der Bildungswebsite news4teachers klarstellt.

Aktueller Anlass ist die Bedrohung der Demokratie von vielen Seiten, was unter anderem auch der Bundespräsident immer wieder konstatiert. Schnell schließt sich die Frage nach mehr politischer Bildung in den Schulen an, die BLLV-Präsidentin Fleischmann mit gemischten Gefühlen wahrnimmt: „Einerseits freuen wir uns, wenn die Gesellschaft uns das zutraut und wenn die Gesellschaft spürt, dass Schule eine wichtige Sozialisierungs- und Bildungsinstitution ist, die nicht nur den Pythagoras vermittelt, sondern einen Bildungs- und Erziehungsauftrag hat. Es ist ein Verständnis von Schule, das uns gefällt.“

Mehr Aufgaben mit weniger Personal? Klare Prioritäten gesucht

Doch die Forderung nach politischer Bildung ist eben nicht die einzige. „Nach der IQB-Studie, die gezeigt hat, dass viele Kinder nicht mal die Mindeststandards in Lesen, Rechnen und Schreiben erzielen, hieß es, dass wir nun ganz scharf diese Basiskompetenzen trainieren müssen“, erinnert die BLLV-Präsidentin und ergänzt: „Die Wirtschaft kritisiert, dass den Schulabgängern andere Fähigkeiten – wie Teamkompetenz – fehlen, und sieht die Schulen in der Pflicht. Wir sollen den Schülern außerdem Medienkompetenz vermitteln, damit sie sich in der Welt der Digitalität zurechtfinden. Wir sollen demokratische Werte hochhalten und – damit sie zu ordentlichen Verkehrsteilnehmern werden –, sollen wir auch das mit ihnen trainieren. Aber mehr Aufgaben bei mehr Schülern und immer weniger Lehrern, das wird nicht hinhauen.“

Die Vielzahl der gesellschaftlichen Wünsche in Schulen abzubilden ist per se schon eine anspruchsvolle Aufgabe – beim derzeitigen Personalmangel aber derart utopisch, dass nur ein gemeinsame Fokussierung auf das Wichtigste weiterhilft: „Wir wollen eine Schule sein, die Bildung und Erziehung ermöglicht, aber erst muss die Gesellschaft festlegen, was die Kernaufgaben von Schule sind“, fordert Fleischmann daher.

Individuelle Leistungsrückmeldung und phänomenologisches Lernen

Dazu gehört aus Sicht des BLLV auch ein Verständnis von Leistung und Leistungsrückmeldung, das dem heutigen Stand der Bildungsforschung entspricht. Fleischmann fordert die Abkehr vom „bulimischen Lernen“ auf eine Prüfung, nach der alles Gelernte dann schnell wieder vergessen wird. „Wir müssen überlegen, wie wir Teamkompetenzen, die digitalen Kompetenzen, die politische Bildung, die Demokratiepädagogik und die ganzen Themen rund um die Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt des schulischen Lernens rücken“, fordert Fleischmann stattdessen.

Außerdem müsste die starre Fächerstruktur aufgebrochen werden, um das sogenannte „phänomenologische Lernen" zu ermöglichen, fordert die BLLV-Präsidentin: „Nehmen wir – weil es uns alle betrifft – den Krieg in der Ukraine als Phänomen. Dann schaut man, welche Kriege gab es schon, welche wirtschaftlichen Folgen wird dieser Krieg haben, wie gehen verschiedene Parteien mit diesem Krieg in Deutschland um, was sagen andere Länder, wo ist denn überhaupt dieses Land, warum ist Amerika jetzt hier so stark, was bedeutet China in diesem Krieg, was hat eigentlich so ein Machthaber für Auswirkungen, welche Staatsformen gibt es. Das heißt, wir haben das Phänomen in der Mitte – nicht die Fächer Geschichte, Geografie oder Wirtschaft – und die Kompetenzen, die man braucht, um dieses Phänomen zu verstehen, gruppieren sich außen herum.“

Evolution von unten

Auch dafür ist aber ein Konsens unabdingbar, was der Kernauftrag von Schule ist – und auch, dass sie organisatorisch wie räumlich dafür anders gestaltet werden muss. Wie das im Einzelnen zu schaffen ist, kann jeweils nur spezifisch für die jeweilige Schule entschieden werden. Und dafür braucht es Vertrauen und Verantwortlichkeit: „Wir fangen vor Ort an“, schlägt Fleischmann vor. „Der Zauberschlüssel heißt eigenverantwortliche Schule, Leuchtturmschulen, Innovationen vor Ort. Diese Graswurzelbewegung sehe ich als richtig.“ Daraus müssten Regierungen dann die bewährten Konzepte für eine allgemeine Ausrichtung ableiten.

Im Kern aller Bemühungen steht dabei die Pädagogik von Mensch zu Mensch. Wenn aber an den Schulen zu wenige Menschen zur Verfügung stehen, nützen die besten Konzepte nichts. „Jetzt geht nur mehr Schmalspur, mehr nicht“, räumt Simone Fleischmann daher mit Blick auf den akuten Lehrkräftemangel ein. „Und das ist fatal, denn gerade dieses ‚Mehr‘ ist das, was den Lehrerberuf attraktiv macht. Meine schönsten Stunden waren die Theater-AG-Stunden, weil ich da das Kind ganzheitlich abgeholt habe und jeder Auftritt von einem schwachen Schüler hat zehnmal mehr gebracht als eine bessere Note. Denn er hat bessere Noten gekriegt, weil er einen Auftritt und Applaus hatte und als Mensch anerkannt war. Oder anders: Die Hauptrolle in einem Theaterstück macht die Matheprobe besser und nicht noch mehr Fünfer, die noch mehr demotivieren.“

Die besten für den potenziell schönsten Beruf

Das bedeutet eben auch, dass der Kampf gegen den Lehrermangel nicht mit den demotivierenden Maßnahmen geführt werden kann, die von der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz vorgeschlagen wurden, die samt und sonders zu Lasten der noch an den Schulen tätigen Pädagoginnen und Pädagogen gehen.

Stattdessen muss der Lehrberuf für den Nachwuchs nachhaltig attraktiv gemacht werden. „Aktuell können wir nur versuchen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern – zum Beispiel durch gleichwertige Eingangsbesoldung und eine Reduzierung der Aufgaben – und wir müssen uns auf die Zukunft fokussieren“, fordert Simone Fleischmann und präzisiert: „Wir müssen das Studium so ändern, dass die jungen Leute sagen, da lerne ich das Richtige für die Praxis. Und wir müssen dafür sorgen, dass wir den Schülern von heute zusichern können: Wenn Ihr Lehrer werdet, dann gibt es, bis ihr fertig seid, zwei Lehrer pro Klasse, dann gibt es multiprofessionelle Teams, dann werdet ihr den Kindern gerecht und dann gibt es auch wieder das Mehr, was diesen Beruf so schön macht. Denn ich bleibe dabei: Lehrer zu sein, ist einer der schönsten Berufe, die es gibt.“

» das Interview mit Simone Fleischmann im Wortlaut bei news4teachers