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Demokratie-Streit, Digital-Hype, Depressionen: Persönlichkeiten bilden!

Die Gesellschaft streitet um streikende Schüler, hyped die Digitalisierung und beklagt depressive Kinder. BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann zeigt auf SAT.1, wie ganzheitlich unterrichtende Lehrkräfte Schüler fit für eine selbstbestimmte Zukunft machen können.

„Was soll denn Schule eigentlich leisten?“ Diese Frage steht für BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann im Kern der Diskussion um scheinbar sehr unterschiedliche Bildungsthemen, die derzeit gesamtgesellschaftlich diskutiert werden und daher Thema bei SAT.1 Bayern am 13. April um 17:30 waren: vom Streit um den richtigen Umgang mit streikenden Schülern, über die Zunahme von psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen bis hin zur allgemeinen Verschlechterung der Handschrift.

Dem reflexartigen Ruf nach immer neuen Fächern für immer neue Aufgaben und Probleme, die an Schule herangetragen werden, erteilt Simone Fleischmann eine klare Absage: „Das brauchen wir nicht!“ Für sie steht stattdessen eine Frage im Mittelpunkt „Wie können wir selbstbewusste Schülerinnen und Schüler erziehen, wie kann ein Mensch zu sich stehen?“ Denn dann sei er fit für alle Herausforderungen der Gesellschaft von heute und morgen. Gelingen könne das nur, wenn Lehrerinnen und Lehrer jeder Schülerin und jedem Schüler individuell als ganzem Menschen begegnen können und ihn ganzheitlich bilden. Dazu fordert sie von der Politik „Rückenstärkung“.

Demos als Lernorte

Zum Aufregerthema, wie es zu bewerten ist, dass die Schülerstreiks während der Unterrichtszeit stattfinden, stellt Simone Fleischmann klar: „Würden sie es zur unterrichtsfreien Zeit machen, würden wir jetzt nicht darüber sprechen. Sie demonstrieren zur Arbeitszeit, wie andere Menschen auch – in dem Fall zur Schulzeit.“

Kinder sollten natürlich wegen der Schulpflicht und des Primats der Bildung nicht dauernd fehlen. Fleischmann setzt sich aber dafür ein, nicht die Strafen in den Vordergrund zu stellen, sondern das Thema selbst: „Was ist denn der Schulstoff? Was brauchen denn Kinder und Jugendliche von heute, damit sie in dieser Welt von morgen bestehen können? Jedes kleine Detailwissen in den vielen, vielen Fächern, die wir haben? Oder wär’s nicht einfach mal an der Zeit zu sagen: Jawohl, wer demonstrieren geht, lernt fürs Leben! Ich ziehe den Hut vor politischem Engagement von Schülerinnern und Schülern. Und dann können wir diskutieren, wie wir das rechtlich lösen.“

Schule am Puls der Zeit

Gleichzeitig müsse die demokratische Werteerziehung aber auch in die Schulen geholt und Teil des Schulalltags werden, betont Fleischmann. „Lehrerinnen und Lehrer wollen genau das: Sie wollen Demokratie leben. Sie wollen Kindern demokratisch begegnen. Sie wollen Vorbilder sein. Wir wollen Formate im ganz normalen Unterricht anbieten, die Kinder demokratisch bilden. Dazu brauchen wir eine Haltung. Eine Haltung, die bedeutet: Ich begegne dir als Schüler als Demokrat. Ihr begegnet euch untereinander als gute Demokraten und geht sensibel und respektvoll miteinander um.“

Gerade beim Versuch, demokratische Partizipation in den Schulen umzusetzen, wie dies das Bayerische Kultusministerium selbst fordert, setze aber der Druck des Lehrplans bisher zu enge Grenzen, beklagt Simone Fleischmann: „Es gibt viele Möglichkeiten, die Stimmen der Schüler in der Schule reinzuholen. Das Ganze krankt aber leider, wie vieles, daran, dass wir uns diese Zeit aus den Rippen schneiden müssten. Und dass sich Kolleginnen und Kollegen sehr gut überlegen, ob sie jetzt so ein Thema in den Mittelpunkt rücken, oder ob sie lieber im Lehrplan weitermachen.“


Jetzt Demokratie stärken


Hier sei die Politik gefragt, Lehrerinnen und Lehrer besser zu unterstützen: „Es braucht ein Schulsystem, das den Kolleginnen und Kollegen die Freiheit gibt, aktuelle politische Themen reinzuholen“, fordert Simone Fleischmann. „Ich erwarte von der großen Politik, dass sie sich da jetzt freimacht, und ein Bekenntnis abgibt, dass das ein ganz entscheidender Kern unserer Aufgaben in Schulen ist!“

Simone Fleischmann berichtet, dass sich der BLLV auch mit eigenen Veranstaltungen dafür engagiert, beispielsweise mit dem Lernforum „Schule für die Demokratie“, das in der Sendung ebenfalls thematisiert wird. Initiator Dr. Fritz Schäffer, Leiter der Abteilung Schul- und Bildungspolitik im BLLV mahnt dabei ebenfalls mehr Partizipation an Schulen an: „Klassensprecher, Schülersprecher, Elternbeiräte: All das haben wir schon, aber zu oft fehlt es da noch an richtigen Mitwirkungsrechten.“

Für den BLLV ist die demokratische Werteerziehung aktuell von besonderer Bedeutung: „Ich glaube, dass Schule jetzt die Chance hat, dieses Thema den Kindern noch einmal anders nahe zu bringen, weil wir ja merken, dass es in der Gesellschaft im demokratischen Setting ruckelt und wir vielleicht wieder Tendenzen erleben müssen, die wir selbst nicht kannten“, sagt Simone Fleischmann. „Deswegen müssen wir Kinder motivieren und in Schule Demokratie leben!“


Zeit, sich zu kümmern


Mit Sorge sieht Simone Fleischmann die Zunahme psychischer Störungen, die sich inzwischen bei 17% der Schülerinnen und Schülern im jugendlichen Alter zeigen. Das beklagt sie auch mit Blick auf den Film „Grau ist keine Farbe“ von sechs direkt und indirekt betroffenen Abiturienten aus Taufkirchen, der das Leid der Mitschüler auf bewegende Weise sichtbar macht. Zur Anklage im Film, Lehrer hätten nicht auf die offensichtlichen Probleme der Betroffenen reagiert, fordert Fleischmann ebenfalls mehr Unterstützung für Lehrerinnen und Lehrer:

„Du spürst, ein Kind ist nicht gut drauf und musst dir überlegen, an was das liegt. Du musst Elterngespräche führen, du musst dem Kind im Unterricht Chancen geben, sich zu zeigen. Du musst überlegen, ob die Mitschüler eine Rolle spielen. Du musst eine Analyse machen.“ Hier stießen Kolleginnen und Kollegen schon wegen der Klassengrößen an Grenzen: „Bei 26 Kindern, von denen jedes Kind anders ist, etwas anderes braucht, ist es fraglich, inwieweit ein Lehrer für jedes Kind in diese Analyse gehen kann“, gibt Simone Fleischmann zu bedenken. Daher brauche es multiprofessionelle Teams im Unterricht und generell an Schulen mehr Beratungslehrer, Schulpsychologen und Sozialarbeiter. Das sei ein großer Wunsch, aller Lehrerinnen und Lehrer, bekräftigt Simone Fleischmann: „Wir leiden darunter, dass wir nicht helfen können!“


Persönlichkeit bilden


Zur Forderung der Jugendlichen aus Taufkirchen, schon an der Schule über Depressionen aufzuklären, fordert die BLLV-Präsidentin, vor allem „das Thema dahinter“ anzugehen und fragt: „Wie können wir Kinder und Jugendliche bilden und erziehen, die merken: „Hey, ich kann das und das. Etwas anderes kann ich nicht, aber die anderen können auch etwas nicht. Wie erziehen wir in Schule Persönlichkeiten, die zu sich stehen? Da will ich ansetzen: Woraus baut sich ein Selbstwertgefühl eines Kindes auf?“

Der BLLV fordert dazu, dass Lehrerinnen und Lehrer mehr Zeit verschafft wird, um mit jedem einzelnen Kind in eine Beziehung zu treten, die dann individuelles, kompetenzorientiertes Lernen und das Bilden einer selbstbestimmten Persönlichkeit ermöglicht: „Auf immer mehr Kinder, die psychisch auffällig sind, und eine Gesellschaft, die droht, immer mehr die Menschen zu verlieren, kann Schule nur antworten, indem wir diesen ganzheitlichen Bildungsauftrag annehmen“, stellt Simone Fleischmann klar.

Der ganze Mensch im geschriebenen Wort

Das gilt aus ihrer Sicht auch für den Umgang mit der Handschrift von Schülerinnen und Schüler, die laut einer aktuellen Studie immer schlechter wird. Sie sei nicht nur wichtig, weil „die Handschrift Auswirkungen auf andere Schulleistungen, auf die Rechtschreibung, auf das Lesen“ habe und spätestens in Abiturprüfungen unter hohem Zeitdruck zukunftsentscheidend sein könne. Denn über die positiven kognitiven Effekte hinaus, das Gelernte über die Motorik besser im Gedächtnis zu verankern, gehe es auch um „persönlichen Ausdruck“, wenn mit der Hand geschrieben wird:

„Da steckt ja mehr drin als die Wörter, die ich geschrieben habe: An der Handschrift liest man etwas ab!“, stellt Simone Fleischmann klar und konstatiert auch hier Zeitmangel bei Lehrerinnen und Lehrern, die Handschrift an Grundschulen unterrichten: „Wenn ein Kind eine persönliche Handschrift entwickelt, braucht es Zeit dafür. Es muss eine gute Betreuung kriegen. Jedes Kind bracht eine etwas andere Unterstützung und die können wir manchmal nicht leisten.“


Für kulturelle Bildung


Spekulationen, ob Kinder im Zeitalter von Klicken, Wischen, Handy- und Laptop-Tastaturen überhaupt noch Handschrift bräuchten, erteilt Simone Fleischmann eine klare Absage: „Wenn wir im digitalen Zeitalter auf die Handschrift verzichten würden, würden wir eine wesentliche Basis des Lernens verlieren und somit auch die Bildung der Kinder gefährden. Das ist wissenschaftlich erwiesen und das sehen wir auch.“

Die Handschrift sei zudem aber nicht nur wichtig fürs Lernen und den persönlichen Ausdruck, sie sei darüber hinaus auch ein wichtiges Kulturgut, das, wie viele andere grundlegende Fähigkeiten, gerade im Zeitalter der Digitalisierung erhalten werden müsse, fordert BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann: „Mir ist ganz wichtig, dass wir altes Kulturgut, grundlegende Basiskompetenzen, kulturelle Bildung, neben dem ganzen digitalen Hype nicht verlieren.“

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Herz. Kopf. Hand. Bildung ist Zeit für Menschen


Der BLLV setzt sich dafür ein, Bildungsfragen, wie sie in der Sendung thematisiert wurden, nicht isoliert betrachten, sondern das große Ganze in den Blick nehmen. Denn um Schülerinnen und Schülern scheinbar abstrakte Werte wie Demokratie zu vermitteln, kulturelle Basiskompetenzen, die Kreativität und Persönlichkeit ausmachen, sowie einen achtsamen Umgang mit Bedürfnissen, Leistung oder Schwächen: Dafür müssen nach dem Verständnis des BLLV Kinder und Jugendliche als ganze Menschen angenommen, bestärkt und individuell gefördert werden, müssen Lerninhalte über rein kognitive Prozesse hinaus erlebbar werden.

Gerade in der beschleunigten digitalen Zeit braucht es daher Herz, Kopf und Hand. Deswegen hat der BLLV auch den ganzheitlichen Bildungsbegriff des großen Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi zum Motto seiner kommenden Landesdelegiertenversammlung gemacht. Damit Lehrerinnen und Lehrer die Zeit und Ressourcen erhalten, um mit Schülerinnen und Schüler wirksam in Beziehung zu treten und so die Voraussetzung für ganzheitliches Lernen zu schaffen, fordert der BLLV von der Politik, die nötigen Rahmenbedingungen herzustellen und die Belange von Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern ernst zu nehmen.