„Die Lage ist wirklich dramatisch“, konstatiert BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann im Gespräch über die aktuelle Situation an bayerischen Schulen. Lehrkräfte befänden sich „mittendrin im Strudel von drei Krisen: Viele neue Schüler und Schülerinnen aus der Ukraine kommen hinzu, wir leiden alle noch unter den Folgen von Corona und das von uns sehnlich erwünschte professionelle zusätzliche Personal ist weit und breit nicht in Sicht", so Fleischmann.
Besonders die bis zu 400.000 zusätzlichen Schülerinnen und Schülern, die aus der Ukraine bis zum Herbst bundesweit erwartet werden, hätten einen besonderen Bedarf, der von den in Willkommensgruppen tätigen Helfern nur bedingt erfüllt werden könne: „Ob das Betreuungspersonal bei den Willkommensgruppen fachlich ausreichend qualifiziert ist, um Kinder mit Traumata zu betreuen, lasse ich mal dahingestellt“, so die BLLV-Präsidentin. „Wenn wir mit Nicht-Pädagogen, mit oftmals Gutwilligen arbeiten müssen, die aber nicht wissen, wie man diesen Kindern individuell gerecht wird, dann ist das schwierig."
Hauptsache, irgendwer steht da vorne?
Nicht nur dafür, sondern auch für das Aufarbeiten der Corona-Folgen ebenso wie für Herausforderungen im Bereich Inklusion und ganzheitlicher Bildung braucht es gut qualifizierte Experten. „Mit einer ‚Schmalspurversorgung‘ bei Lehrkräften können wir die Probleme nicht lösen“, stellt Simone Fleischmann klar.
Genau darauf läuft es aber durch das Agieren der politisch Verantwortlichen oft hinaus. Das bayerische Kultusministerium brüste sich zu oft damit, dass vor jeder Klasse eine Person stehe. „Überall im Land geht es darum, die Löcher im System mit Nicht-Pädagogen zu stopfen“, bemängelt die BLLV-Präsidentin. „Das geht doch so weit, dass Schulleitungen sich irgendwelche Menschen mit dem ‘Lasso’ fangen, damit überhaupt jemand vor der Klasse steht.“ Mit der Bildungsqualität, für die sich der BLLV aus einem professionellen pädagogischen Selbstverständnis einsetzt, hat das dann allerdings nichts mehr zu tun – vielmehr ist das Augenwischerei: „Ich gehe so weit zu sagen, dass der Lehrkräftemangel kaschiert wird, und das systematisch“, folgert Simone Fleischmann.
Bis zur Selbstausbeutung
Auch viele Eltern bestätigen diese Wahrnehmung, führt die BLLV-Präsidentin an: „Eltern stellen fest, dass oft nicht ausgebildete Lehrer die Kinder unterrichten. Eltern fragen sich, warum die Kinder schon so oft nach der zweiten Unterrichtsstunde nach Hause kommen. Sie beklagen, dass die Lücken bei ihren Kindern von Nichtpädagogen geschlossen werden sollen.“
Der Lehrermangel wird systematisch kaschiert
BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann schildert eindrücklich die Grenzüberschreitungen der Lehrkräfte beim Versuch, trotz akutem Lehrermangel und Corona-Irritationen Integration mit Herz und Haltung zu stemmen. Die Politik verschleiert indes die Realität.
Auffangen müssen – und wollen – das die Lehrkräfte, die allen Widerständen zum Trotz versuchen, ihren pädagogischen Auftrag weiter wahrzunehmen. Doch das hat Folgen: „Viele Lehrkräfte sagen, ‘Selbstverständlich integriere ich die drei ukrainischen Kinder, die nehme ich noch dazu. Jetzt habe ich 27 Kinder in der 8. Klasse am Gymnasium, dann füllen wir halt auf 30 auf’“, berichtet Simone Fleischmann und gibt zu bedenken: „Diese ‘Haltung des Herzens’ hat aber schwerwiegende Folgen. Wenn wir dann noch ein Trisomie-21-Kind integrieren sollen, aber dazu nicht die Kompetenz haben, dann werden wir allen Kindern nicht gerecht.“ Dazu kommen noch teils heftige Konflikte um den Wegfall der Corona-Maßnahmen, die Lehrkräfte dazu zwingen, die widersprüchlichen Erwartungen und Ansprüche zwischen verschiedenen Lagern von Eltern und Schülerinnen und Schülern zu moderieren.
Weitere Ausfälle vorprogrammiert
Die Gesundheit der Lehrkräfte ist so akut gefährdet. Die BLLV-Präsidentin berichtet von zunehmenden Burnout-Fällen, zudem hätten im letzten Jahr 70 Schulleitungen ihren Job aufgegeben. „Wir fangen alles irgendwie auf, was dieser Lehrermangel in Bayern alles so verursacht“, so die BLLV-Präsidentin.
Angesichts der drei Krisen, warnt Simone Fleischmann eindringlich: „Die Schulen in Bayern sind weit über ihre Grenzen gegangen, uns geht wirklich die Luft aus."
» zum Artikel „‘So schwierig war es noch nie‘: Schule vor dem Kollaps?"
Medienberichte
Im Gespräch mit dem Bayerischen Rundfunk sagt Simone Fleischmann:
- "Wir brauchen die Unterstützung der ukrainischen Lehrkräfte in Zeiten des Lehrermangels, der Pandemie und den neuen ukrainischen Flüchtlingskindern dringend. Deshalb müssen die bürokratischen Hürden so niedrig wie möglich gehalten werden, damit die Kinder schnellstmöglich von den ukrainischen Lehrkräften profitieren."
- "Kräfte, die uns helfen, gegen den Lehrermangel anzukommen - etwa beim Brücken-bauen-Programm oder bei den Willkommensklassen - müssen unbedingt angemessen entlohnt werden. Dass diese Kräfte nach Monaten keinen Cent auf ihrem Konto für ihre Tätigkeit sehen, wie wir es jetzt erleben müssen, ist arg. Das macht auch etwas mit der Motivation der Menschen. Aber selbst die Verwaltung, die Gelder überweist, ist überlastet und verfügt über zu wenig Personal. Aber: Geld ist da. Und daran darf die Bildung dieser Kinder und auch der anderen Kinder nicht scheitern. Aber das Geld muss halt ausbezahlt werden."
- "Wir wünschen uns eine Planung für September. Denn momentan haben wir gar keine Ahnung, wieviele Flüchtlinge noch kommen, wo sie hinkommen sollen und woher wir fehlende Lehrkräfte bekommen. Eine dringende Bitte wäre, die Schulleitungen von Grundschulen, die häufig noch viel selbst unterrichten, davon freizustellen, damit sie die Corona-Folgen, den Lehrermangel und die Integration der ukrainischen Schulkinder organisieren können."
- "Die Vielfalt unter den ukrainischen Flüchtlingskinder ist groß. Da gibt es welche, die kämpfen mit Traumata und wollen gar nicht in die Schule, weil sie sich nur bei der Mama sicher fühlen. Die bräuchten psychologische Hilfe. Und dann am anderen Ende des Spektrums sind die, die hier die Schule besuchen und parallel noch online ihren Abschluss in der Urkaine machen. Für all diese Kinder sind wir personell nicht gut genug aufgestellt: Es fehlen ganz grundsätzlich Lehrkräfte und dann die Experten, die Deutsch als Zweitsprache unterrichten und Förderlehrkräfte."
Das sagt Udo Beckmann dem Redaktionsnetzwerk Deutschland im Wortlaut:
- "Die Politik darf nicht allein nach dem Prinzip Hoffnung agieren. Sie muss beginnen, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen. Anstatt immer nur zu reagieren und dem Infektionsgeschehen hinterherzurennen, muss jetzt alles getan werden, um vor die nächste Pandemiewelle zu kommen."
- "Wenn im Herbst die nächste Welle kommen sollte, träfe sie auf ein Bildungssystem, das bereits seit Langem mit dramatischer personeller Unterdeckung arbeitet, (...) und auf Lehrkräfte, die durch jahrelange Überlastung, zwei Jahre Corona und die Herausforderungen bei der Aufnahme und Beschulung geflüchteter ukrainischer Kinder deutlich mehr leisten, als zumutbar ist“
- "Wenn das Kartenhaus Schule nicht zusammenbrechen soll, braucht es umgehende Entlastung für Schulleitungen und Lehrkräfte, besonders durch multiprofessionelle Teams. Vor allem aber müssen sich die politisch Verantwortlichen ehrlich machen und der Gesellschaft vermitteln, was unter den gegebenen Umständen in den Schulen leistbar ist und was nicht."
Update zu den neuen Leitlinien der Kultusministerkonferenz
Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat heute am 18.5. "Leitlinien für die Beschulung von Geflüchteten aus der Ukraine" verabschiedet. Dabei wird zwar Unterstützung für das durch Corona und Lehrermangel belastete Schulsystem versprochen und es werden Zielsetzungen benannt. Allerdings fehlen Planungen, wie das konkret umgesetzt werden kann und wie das dafür nötige Personal akquiriert wird. Das Versprechen der KMK-Vorsitzenden Karin Prien "Wir integrieren Kinder und Jugendliche zügig in ein schulisches Umfeld", sieht Udo Beckmann, Vorsitzender des BLLV-Dachverbands VBE (Verband Bildung und Erziehung), daher kritisch und fordert, öffentlichkeitswirksame Schönfärberei zu unterlassen:
"Angesichts des Lehrkräftemangels, der die Schulen bereits vor Corona vor große Herausforderungen stellte und sich in den zurückliegenden zwei Jahren nochmals drastisch verschärft hat, warnen wir allerdings davor, die tatsächliche personelle Situation zu verklären. Die zusätzliche Beschulung von bereits über 100.000 geflüchteten Kindern erzeugt schon jetzt, selbst bei konservativer Berechnung, einen Mehrbedarf von über 7.000 zusätzlichen Lehrkräften. Da dieser bei weitem nicht über die Einstellung ukrainischer Lehrkräfte gedeckt werden kann, erwarten wir, dass die KMK der Bevölkerung offen und transparent erklärt, mit welchen Einschränkungen in den kommenden Wochen und Monaten zu rechnen ist und welche zusätzlichen Maßnahmen zur weiteren Lehrkräftegewinnung geplant sind."
» Zur Pressemitteilung des VBE: "Realität an den Schulen nicht verklären"
Weitere Informationen
Statement: "Corona-Lockerungen, Integration ukrainischer Kinder sowie akuter Lehrermangel"
Geflüchtete Kinder an Schulen:
"Wir brauchen viel Herz, mehr Menschen, weniger Bürokratie und einen Langfrist-Plan!"
Wie Schulen Krieg und Flucht begegnen:
"Ängste ernstnehmen, Mythen enttarnen, Flüchtlinge aufnehmen"
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Das Menschenbild des BLLV: Bildung mit Herz.Kopf.Hand.
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Mit Herz und Haltung nehmen Lehrkräfte geflüchtete Kinder aus der Ukraine an. Diese Kinder brauchen nicht nur Konzepte, sondern auch Menschen! Wie ehrlich sind Versprechen der Politik? » bllv.de/muster-brechen