EPD: Herr Reithmeier, das Judentum hat eine Tradition von mehr als 1.700 Jahren in Bayern. Jüdische Bildung hat in all der Zeit doch bestimmt eine Rolle gespielt.
DIETER REITHMEIER: Bildung hatte im Judentum immer einen hohen Stellenwert. Ich würde aber mal in der jüngeren Vergangenheit ansetzen – und zwar 1802, als in Bayern die Schulpflicht für christliche Kinder eingeführt wurde, 1804 dann auch für die jüdischen. Dazu muss man wissen, dass die Volksschulen damals nach Konfessionen getrennt waren, in Bayern übrigens bis 1967.
Dass sich die Konfessionen durchmischten, war nicht gern gesehen. Katholische Kinder gingen in die katholische Schule und evangelische Kinder in die evangelische. In logischer Konsequenz bedeutete das für die jüdischen Gemeinden, dass auch sie eigene Schulen gründen durften, die sie aber selbst finanzieren mussten. Ihr Unterricht musste, bis auf den Religionsunterricht, die staatlichen Vorschriften erfüllen. Jüdische Zentren in Bayern waren Schwaben und Franken.
EPD: Waren Konfessionen und Religionen tatsächlich so streng getrennt, das ist heute ja unvorstellbar? 1 plus 1 ist doch immer 2, egal in welcher Religion…
REITHMEIER: Heute kann man sich das kaum noch vorstellen, aber ja. Es gab quasi ein katholisches Einmaleins und ein evangelisches. Der damalige Volksschul-Unterricht bestand zu über der Hälfte aus Religion, sprich: Auswendiglernen des Katechismus, von Kirchenliedern, Bibeltexten, Gebeten. Aber auch die übrigen Fächer wie Lesen oder Schreiben waren von katholischen oder evangelischen Inhalten durchsetzt. So hatte jede Konfession eigene Schulbücher: Evangelische Lesebücher waren voller Texte aus dem evangelischen Kontext, es gab sogar verschiedene Mathebücher. Da gab es dann eben entsprechende Textaufgaben.
Praktische Probleme gab es aber kaum. Die Dörfer waren ja entweder katholisch oder evangelisch. Meistens hat es daher auch außer in den Städten nur eine Schule gegeben. Schwierig war es hingegen für die jüdische Bevölkerung. Denn die war in einigen Dörfern so klein, dass keine eigene Schule unterhalten werden konnte.
EPD: Was geschah dann mit den jüdischen Kindern?
REITHMEIER: Jüdische Kinder durften in Ausnahmefällen dann auch die christlichen Schulen besuchen – aber nicht den Religionsunterricht. Den erhielten sie in sogenannten Religionsschulen der kleinen Kultusgemeinden. Da viele dieser Gemeinden sich keinen eigenen Rabbiner leisten konnten, unterrichtete häufig ein jüdischer Religionslehrer, der zusätzlich oft Kantor oder Schächter war. Oft schlossen sich auch mehrere kleine Landgemeinden zusammen, um gemeinsam einen Religionslehrer anzustellen, der dann von Gemeinde zu Gemeinde wanderte.
EPD: Wie viele jüdischen Schulen gab es denn im Laufe der Zeit in Bayern?
REITHMEIER: 1835 gab es 158 Schulen, 1850 dann 180 Schulen. Ab dann gingen die Zahlen, vor allem wegen Landflucht und Geburtenrückgang, zurück. 1871 mit Gründung des Deutschen Kaiserreichs gab es noch 124 jüdische Schulen, 1933 mit Beginn der NS-Zeit nur noch 26. Ich spreche hier übrigens von Elementar- und Volksschulen. Höhere jüdische Schulen gab es bis auf eine Realschule in Fürth nicht.
EPD: Kann man denn sagen, dass es eine Blütezeit der jüdischen Bildung um 1850 gab?
REITHMEIER: Von einer gewissen Blütezeit könnte man bis etwa 1860 sprechen. Bis dahin förderte der bayerische Staat die Gründung jüdischer Schulen. Da die Zahl der Juden, die in den Städten leben durften, stark reglementiert war, mussten zahlreiche Juden die Städte verlassen und wanderten aus oder zogen aufs Land. In der Folge bildeten sich neue jüdische Landgemeinden, die auch Schulen gründeten. Bereits existierende Schulen wurden oft vergrößert. 1871 erhielten die Juden volle Bürgerrechte. In der Folge zogen viele wieder zurück in die Städte. Dort gab es bessere Chancen für Ausbildung und Beruf. Die Landgemeinden verwaisten, Schulen mussten schließen.
Dazu kam der zunehmende Konflikt zwischen liberalen und orthodoxen Juden. Die Liberalen lehnten jüdische Schulen ab, da sie in der Regel von orthodoxen Gemeinden geführt wurden. Sie schickten ihre Kinder lieber auf staatliche christliche Schulen.
EPD: Und nach dem Ende des Deutschen Kaiserreichs?
REITHMEIER: Nach dem Ersten Weltkrieg gab es noch 75 jüdische Schulen, dann nahm die Zahl aber rapide ab. Während der Weimarer Republik gab es sehr viele assimilierte und liberale Juden, die in der Zivilgesellschaft nicht als Juden sichtbar oder sogar konvertiert waren und deren Kinder auch keine jüdischen Schulen besuchten. Dazu muss man wissen, dass es in den höheren Schulen eh keine Trennung nach Konfessionen gab.
EPD: Das änderte sich dann wieder während der NS-Zeit…
REITHMEIER: Wie da die jüdische Bevölkerung unterdrückt und verfolgt wurde, ist hinlänglich bekannt. Was nicht ganz so bekannt ist: Die Zahl der jüdischen Schulen ist kurzzeitig wieder gestiegen – und zwar deshalb, weil jüdische Kinder keine staatlichen Schulen mehr besuchen durften. Also mussten jüdische Schulen ausgebaut oder neu gegründet werden. Man sieht: Wie sich die jüdische Bevölkerung in Bayern entwickelt hat, ist oftmals eine Antwort auf Restriktionen ihr gegenüber.
EPD: Was passierte dann nach der NS-Zeit?
REITHMEIER: In der Nachkriegszeit gab es meines Wissens keine staatlich anerkannten jüdischen Schulen. Die meisten der wenigen überlebenden Juden waren emigriert. Die wenigen jüdischen Kinder, die noch in Bayern lebten, besuchten die staatliche katholische oder evangelische Schule und erhielten Religionsunterricht in den wenigen existierenden Kultusgemeinden.
Die jüdischen Gemeinden sind erst wieder ab den 1980er Jahren gewachsen, als Jüdinnen und Juden aus der Sowjetunion nach Deutschland emigrieren durften. Da es da auch keine konfessionell getrennten Volksschulen mehr gab, war die Notwendigkeit der Gründung jüdischer Schulen auch nicht mehr gegeben.
<< Diese Gespräch erschien auch in der Evangelischen Zeitung