Bild: Meerwasser unter die Lupe nehmen – dafür müssen die Schülerinnen und Schüler beim Ocean College nur einmal über die Reling greifen (copyright: Ocean College)
Bild: Meerwasser unter die Lupe nehmen – dafür müssen die Schülerinnen und Schüler beim Ocean College nur einmal über die Reling greifen (copyright: Ocean College)
Schule anders erleben Startseite
Beziehung Methodenmix Individuelle Förderung Phänomenologisches Lernen Schülerzentriert

Ganz nah dran: Lernen auf dem Segelschiff

Mit einem Segelschiff über den Ozean navigieren und in den Schulstunden das praktisch lernen, was gerade vor Ort verlangt wird: Das machen Schülerinnen und Schüler beim Ocean College. Warum sich dieser Ansatz in den Schulen noch viel weiter ausbreiten muss.

Dass Schülerinnen oder Schüler ein Jahr oder ein halbes in den USA oder Kanada eine High School besuchen und dann wieder an die heimische Schule zurückkehren ist nichts Neues. Dass sie auf einem Segelschiff anheuern und damit um die Welt segeln, aber schon: Das Ocean College aus Berlin macht es seit einigen Jahren möglich – mit wachsendem Erfolg. Es ermöglicht den Schülerinnen und Schülern kein fliegendes Klassenzimmer, sondern ein schwimmendes.

Die abenteuerlustigen Schülerinnen und Schüler besuchen zumeist die zehnte Klasse und kommen aus der Schweiz, Österreich und Deutschland. In einer Zeitspanne von sechs Monaten legt die etwa 35 Kopf starke Gruppe von Schülerinnen und Schülern auf einem traditionellen Segelschiff 11.000 Seemeilen zurück. Sie überquert dabei zweimal den Atlantik: über die Kanaren bis nach Kolumbien und durch den Panamakanal nach Costa Rica. Auf dem Rückweg geht's über die Bahamas, die Azoren und Den Haag zum Schlusspunkt Emden.

Jugendliche brauchen Herausforderungen

Das Segeln über den Ozean, das Navigieren oder das Überstehen von ungemütlichem Wetter stellt Jugendliche vor viele herausfordernde Situationen. Zwar stehen ihnen Erwachsene (drei Lehrkräfte und eine Schiffscrew) notfalls zur Seite – aber eigentlich haben die Jugendlichen das Kommando an Bord. Unterricht findet auf dem Schiff statt. Gelernt wird, was vor Ort gerade verlangt wird. Heißt also: Sie lernen, das Schiff zu steuern, indem sie sich im Unterricht die nötigen Kenntnisse in Mathematik und Physik aneignen. Da sie selbst auf der Route von Kolumbus segeln, bietet es sich im Fach Geschichte an, den Sklavenhandel durchzunehmen. Ebenso unmittelbar erleben die Schüler den Sozialismus in Kuba oder besichtigen in der Normandie Küstenabschnitte, an denen die Alliierten gelandet sind.

Es geht um das Erlernen von Teamfähigkeit, Resilienz und Flexibilität

„Jugendliche brauchen Herausforderungen und müssen Leidenschaft für etwas entwickeln“, davon ist Johan Kegler (42), Gründer und Geschäftsführer vom Ocean College (Sitz in Berlin), überzeugt. Kegler ist von Haus aus Lehrer, haderte aber mit dem Schulsystem, zog 2013 einen Schlussstrich. „Ich will es anders machen“, nahm er sich vor und gründete die Ocean College GmbH. Bis das erste Schiff mit Schülerinnen und Schülern auslief, vergingen aber noch vier Jahre. In denen hielt er sich mit Nebenjobs über Wasser. Eine Ausdauer, die sich gelohnt hat: In Kürze sticht Segelschiff Nummer zwei in See.

Was die Jugendlichen an Bord ebenfalls lernen und Kegler als elementare Fähigkeit für heranwachsende Menschen erachtet: im Team zu arbeiten. Das bestätigt auch der 19-jährige Justus Börsch, der vor zwei Jahren beim Ocean College dabei war. Die Enge auf dem Segelboot habe dazu geführt, dass er ganz intensiv lernen musste, wie er mit Konflikten umgeht: „Es ist klar, dass man sich auf dem Schiff nicht aus dem Weg gehen kann, nach Lösungen suchen muss und gucken muss: Wie helfen wir uns untereinander?“

Das dreigliedrige Schulsystem geht Kegler gegen den Strich

In vielen Schulen leben Kinder in einem Schulsystem, das noch stark vom letzten Jahrhundert geprägt ist, meint Ocean-College-Gründer Kegler: „Sie werden zu Einzelkämpfern erzogen anstatt zu Teamplayern“. Ihm gehen Noten, das dreigliedrige Schulsystem und Gleichtaktung gegen den Strich. Zu wenig würden Resilienzfähigkeit und Flexibilität trainiert. Was Kegler außerdem in Wallung bringt: „Kinder und Jugendliche werden bestraft, wenn sie Fehler machen.“

Was Schule aus Keglers Sicht stattdessen leisten soll: fächerübergreifendes Lernen. Kegler findet es wichtig, dass Lehrkräfte ihren Schülerinnen und Schülern nicht nur begreiflich machen, worum es geht bei dem Stoff, sondern auch, warum er für sie wichtig ist und sie interessieren sollte.

Schüler lobt Praxisbezug des Unterrichts als „supercool“

Genau das fand der Ex-Ocean-College-Teilnehmer Justus Börsch „supercool“ an Bord des Segelschiffes. Er erinnert sich daran, wie motivierend es für ihn war, dass sich der Unterricht auf dem Boot immer auf die Aufgaben und Situation vor Ort bezogen hat. Konkret: Um das Segelboot über die Meere zu steuern, brauchte es Kenntnisse in Physik und Mathe – und so bekamen diese Unterrichtseinheiten einen ganz neuen Sinn und standen nicht im luftleeren Raum, wie Justus es an seiner Regelschule so oft erlebt hatte. „Mir war nie so klar, wofür ich die Dinge konkret nutzen kann, die ich lerne.“

… und wer kann sich das leisten?

Dass eine halbjährige Weltreise mit einem Segelboot inklusive intensiver schulischer und pädagogischer Betreuung ihren Preis hat, dürfte klar sein. Ganz konkret zahlt jeder Teilnehmer 25.000 Euro. Ebenso klar sein dürfte aber auch: So ein Betrag ist nur für einen kleinen Bruchteil von Familien stemmbar. Laut Kegler spielt in einem Drittel der Familien, die ihr Kind zum Ocean College anmelden, Geld sowieso keine Rolle mehr. Ein weiteres Drittel rechnet sich die Kosten einmal durch und das letzte Drittel fängt zwei Jahre vor dem Segeltörn an, sich die Kosten vom Mund abzusparen. Da müssen auch die Kinder Geld dazugeben, indem sie jobben gehen und sie bekommen am Geburtstag statt Geschenken Geld fürs Ocean College.

Zu Recht ist Kegler stolz darauf, dass sie jährlich ein Vollstipendium anbieten können – ab nächstem Jahr sogar zwei. Für Kinder, die aus sozialen Schichten kommen, die sich das nie und nimmer hätten leisten können.   

Schüler am Ende des Segeltörns „einen halben Meter größer“

Was die Monate auf dem Segelboot mit einem Kind machen kann, erzählt Kegler exemplarisch an einem Schüler. Bei dem hatte Kegler in dem Moment, als der Jugendliche das Boot betrat, starke Zweifel. Würde es mit ihm gutgehen? Der Junge war lernbehindert, litt an Dyskalkulie und Legasthenie. An Bord sei dieser Schüler dann aber aufgeblüht. Er konnte plötzlich all sein Wissen und seine Begeisterung für Outdoor und alles, was mit diesem Thema zu tun hat, ausleben und wurde dafür von den anderen Schülerinnen und Schülern anerkannt. Als dieser Schüler das Boot am Ende der Reise verlassen habe, sei er „einen halben Meter größer gewesen“.

Für Kegler auch ein eindringliches Beispiel, um zu vermitteln: Wir können es uns nicht leisten, Kinder zurücklassen. Nicht nur aus pädagogischen Gründen. Auch aus wirtschaftlichen, sagt Kegler. Denn allein die wirtschaftlichen Folgekosten für ein Kind, das ohne Abschluss und Ausbildung zurückgelassen wird, sind enorm.


Schülergruppe auf Reise toleranter geworden, weil klar wurde: Jeder trägt etwas bei

Welche Persönlichkeitsentwicklungen bei den Heranwachsenden an Bord stattfinden, kann auch der 29-jährige Nicolas Fleischmann bestätigen. Er hat vor seinem Referendariat beim Ocean College als Lehrer gearbeitet. Dort merkte er, dass die Schülergruppe insgesamt toleranter geworden geworden sei im Laufe der Reise. Denn die Schüler stellten fest: Jeder hat eine für die Gruppe wichtige Fähigkeit. Außerdem hat er beobachtet, wie Schülerinnen und Schüler selbstsicherer geworden sind, auch weil sie Selbstwirksamkeit erleben konnten.

Wie könnte man Elemente vom Ocean College auch in der Regelschule leben?

Selbstsichere, intrinsisch motivierte, tolerante Schülerinnen und Schüler – ist diese Art von Persönlichkeitsentwicklung nur in einer privaten Institution außerhalb einer Regelschule möglich? Oder lassen sich manche Dinge auch auf das normale Schulleben übertragen?

Ideen hätte Ocean-College-Gründer Kegler schon: „Alles, was die Schule mehr ins Leben bringt.“ Konkret: Wenn ein neuer Schulhof geplant wird, daraus ein Projekt für die Schülerinnen und Schüler machen. Mit der Klasse Herausforderungen wie eine Radtour über die Alpen planen. „Bitte kein Gong mehr!“ und meint damit: Keine starren Zeitpläne.
 

Ocean-College-Lehrkräfte müssen abenteuerlustig sein

Die schwierigste Aufgabe für Kegler ist es, die passenden Lehrkräfte zu finden: „Das ist kein Karibikurlaub!“ Die Lehrkräfte müssen 10 Fächer unterrichten und sind mit den Schülerinnen und Schülern nonstop auf dem Schiff zusammen. Belohnt werden sie aber mit der Möglichkeit, unter besonders praxisnahen Umständen Unterricht machen zu können. Laut Kegler bewerben sich Lehrkräfte, die das Abenteuer suchen – und dafür bereit sind, auf den Alltagskomfort zu verzichten.
» Zur Ocean-College-Website



„Man muss sich auch trauen. Der Spielraum ist größer als man denkt“

Was Ex-Ocean-College-Lehrer Nicolas Fleischmann in seinen Schulalltag mit hinüber genommen hat: Wie wichtig eine authentische Lernumgebung ist und wie elementar es ist, Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, warum sie einen bestimmten Stoff lernen sollen. Auch ein geflügelter Satz begleitet Nicolas Fleischmann seit seiner Zeit an Bord des Segelschiffs: „We are in a floating environment“. Er bedeutet: Reagiere flexibel auf deine sich stetig verändernde Umgebung. Denn natürlich erlebt auch er, dass die Strukturen in einer Regelschule oftmals sehr starr sind. Nicolas Fleischmann ist aber auch überzeugt: „Man muss sich auch trauen. Der Spielraum ist größer als man denkt“. Außerdem ist er überzeugt, dass auch schon eine Woche Segeltörn einen positiven Effekt auf die Persönlichkeit von Schülerinnen und Schülern habe - es müsse nicht ein halbes Jahr sein. 

>> Lesen Sie dazu den Kommentar von BLLV-Abteilungsleiterin Birgit Dittmer-Glaubig "Es hängt an Budget und Personal"