Der Schüler
In einer achten Mittelschulklasse stehen an einem Nachmittag die praktischen Fächer auf dem Stundenplan. Die Lehrkraft für das Fach Ernährung & Soziales fällt aus, sodass die Schulleitung beschließt, die Schülerinnen und Schüler aus dieser Gruppe früher nach Hause zu schicken. Ein Schüler aus der Technikgruppe fragt nach, ob auch sein Unterricht entfallen würde, was die Rektorin verneint. Er habe seine Stunden ganz regulär nach Stundenplan.
Nach Stundenbeginn meldet jedoch der Fachlehrer, dass ebendieser Schüler fehlen würde. Nachfragen ergeben, dass er nach Hause gegangen ist und dort mitgeteilt hat, sein Unterricht sei ausgefallen. Er erhält einen Verweis. Wenige Tage später wird ihm ein weiterer Verweis erteilt, weil ihn der Schulhausmeister im Bereich der Turnhalle antrifft, wo er sich zu diesem Zeitpunkt nicht aufhalten darf. Angeblich musste er auf die Toilette und hätte keine andere freie gefunden als die neben der Turnhalle. Der Hausmeister wendet sich an die nächste greifbare Lehrkraft und gerät dabei an die Schulleiterin. Diese stellt den Verweis aus.
Der Vater
Der Vater hat für die Maßnahmen der Rektorin kein Verständnis. Sein Sohn habe im ersten Fall erzählt, ihm sei gesagt worden, dass der Unterricht ausfalle, und sein Sohn würde so was ja nicht erzählen, wenn es nicht stimmen würde. Und dass sich der Knabe beim Toilettengang mal zufällig Richtung Turnhalle verirre, sei doch wohl auch kein Drama.
Dass sein Sohn kein Kind von Traurigkeit ist und eher öfter betroffen von erzieherischen Maßnahmen, blendet der Vater ebenso aus wie die Tatsache, dass der Sohn auf eine Klassenfahrt nicht mitkonnte, weil er selbst als Vater es über Monate versäumte, die Einwilligungserklärung zu unterschreiben und eine Anzahlung zu leisten. Bereits in dieser Sache hatte er einen Anwalt eingeschaltet, um über massiven Druck auf Schulleiterin und Klassenlehrer seinem Sohn die Klassenfahrt quasi zu erklagen. Dieser Anwalt beweist in mehreren Schreiben, dass er eine sehr eigene Sicht auf Fakten hat.
Der Anwalt
Der vom Vater hinzugezogene Rechtsbeistand fällt von Anfang an auf durch seine massiven Einschüchterungsversuche, etwa durch die Androhung von Klagen wegen Nötigung oder durch zweifelhafte historische Vergleiche. Dabei schießt er mehrfach übers Ziel hinaus, verweist auf Urteile mit Aktenzeichen, die (so ergibt eine Rückfrage bei dem entsprechenden Gericht) nicht existieren, und zitiert Stellen aus dem BayEUG falsch. Insbesondere den zweiten Verweis kritisiert er als rechtswidrig.
Die Rechtslage
Ein Verweis ist gemäß Art. 86 Abs. 2 eine Ordnungsmaßnahme. In diesem Absatz sind die zulässigen Ordnungsmaßnahmen abschließend aufgelistet, das heißt darüber hinaus gibt es keine weiteren. Ordnungsmaßnahmen sind zugleich auch immer Erziehungsmaßnahmen, es steht also nicht der sanktionierende Gedanke im Vordergrund, sondern der erzieherische. Der einfache Verweis – im Unterschied zum verschärften – hat in der Aufzählung die Nummer 1, ist also die niederschwelligste Ordnungsmaßnahme. Wird eine Ordnungsmaßnahme ausgesprochen, ist ein entscheidendes Kriterium der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 86 Abs. 1 Satz 5). Von allen zur Verfügung stehenden Maßnahmen ist somit die schwächste zu wählen, mit der man das angestrebte Erziehungsziel noch erreichen kann.
Während der einfache Verweis durch jede Lehrkraft erteilt werden kann, ist für einen verschärften Verweis ausschließlich die Schulleitung zuständig (Art. 88 Abs. 1 Ziffern 1+2). Dies bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, dass jeder durch die Schulleitung ausgestellte Verweis automatisch ein verschärfter Verweis sein muss, denn das würde den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzen. Insbesondere während des eigenen Unterrichts ist jedes Mitglied der Schulleitung als Lehrkraft tätig und kann damit einfache Verweise erteilen. Agiert sie jedoch in ihrer Funktion als Schulleitung, würde es sich um einen verschärften Verweis handeln. Darauf zielte der Anwalt ab.
Die Beschwerde
Wegen des unentschuldigten Fehlens, für das man beim Schüler Absicht unterstellt, wird ein einfacher Verweis ausgesprochen, für den unrechtmäßigen Aufenthalt im Turnhallenbereich ein weiterer durch die Rektorin. Der Anwalt kritisiert: „In dem Verweis vom 23.07.2024 wird meinem Mandanten vorgehalten, dass er sich am 23.07.2024 unerlaubt im Turnhallenbereich aufgehalten habe. Der Verweis wird durch die Rektorin, Frau S., ausgesprochen. Frau Rektorin S. ist für diesen Verweis nach Art. 86 Abs. 2 Nummer 1 BayEUG nicht zuständig. Der Verweis ist daher bereits aus formellen Gründen rechtswidrig.
Im Übrigen ist der Verweis auch sachlich unberechtigt, da mein Mandant die nächste Toilette aufsuchte, welche frei war. Mein Mandant besucht die 8. Klasse und hat daher die notwendige Orientierung, um sich nicht zu verlaufen, wenn er im Bereich der Turnhalle geht. Da mein Mandant durch die beiden rechtswidrigen Verweise in seinem Fortkommen belastet ist, ist im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Aussetzung der Vollziehung anzuordnen.“
Die Kritikpunkte
Der Anwalt bemängelt, dass der Verweis durch die Rektorin nicht hätte erteilt werden dürfen, weil sie als Schulleiterin für einen einfachen Verweis nicht zuständig sei. Er verkennt dabei, dass der Hausmeister auf der Suche nach irgendeiner Lehrkraft war und nicht explizit nach der Rektorin. Man kann also unterstellen, dass die Rektorin hier als Lehrkraft handelte und nicht in ihrer Funktion. Für das Aufsuchen einer falschen Toilette wäre ein verschärfter Verweis darüber hinaus wohl auch unverhältnismäßig gewesen.
Des Weiteren wird die „Aussetzung der Vollziehung“ gefordert. Dies ist in dreifacher Hinsicht falsch. Zum einen wird bei einem Verweis nichts vollzogen (wie etwa bei einem Schulausschluss), sondern er wird ausgesprochen und gilt damit als erteilt. Zum anderen stellt Art. 88 Abs. 8 BayEUG klar: „Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Ordnungs- und Sicherungsmaßnahmen nach den Art. 86 Abs. 2 sowie Art. 87 haben keine aufschiebende Wirkung.“ Und darüber hinaus ist ein Verweis nach vorherrschender Meinung und einschlägiger Kommentierung kein Verwaltungsakt im Sinne von Art. 35 Satz 1 BayVwVfG (Bayer. Verwaltungsverfahrensgesetz), weswegen die angeführten Rechtsmittel des Anwalts keine Wirkung entfalten können.
Fazit
Die Rechtsabteilung des BLLV formuliert für die Schulleiterin ein Antwortschreiben an den Anwalt, das betont, dass seine Fallschilderungen beziehungsweise die seines Mandanten nicht den Tatsachen entsprächen. Beide Verweise seien sowohl sachlich begründet als auch verhältnismäßig, eine aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs sei nicht möglich.
Hinsichtlich der Frage, ob die Rektorin einen einfachen Verweis erteilen durfte, wird ihm ein Angebot unterbreitet, das er schwerlich annehmen kann: „Im Falle des Verweises vom 23.07.24 wurde ich als Lehrkraft der Schule vom Hausmeister über den Vorfall benachrichtigt und hinzugezogen. Insofern wurde der Verweis von mir auch als Lehrkraft und nicht in meiner Funktion als Schulleiterin erteilt. Soweit Sie hier die Rechtmäßigkeit anzweifeln, bin ich gerne bereit, den Verweis zurückzunehmen und zu überprüfen, ob ich rechtskonform in meiner Funktion als Schulleiterin einen verschärften Verweis gem. Art. 86 Abs. 2 Ziffer 2 erteilen kann. Sollte dies im Sinne Ihrer Mandantschaft sein, so lassen Sie mich das bitte wissen.“