Stattdessen: Mehr individuelle Förderung und lernförderliches Feedback
„Wenn wir wollen, dass junge Menschen ihr Leistungspotenzial voll entwickeln, dann brauchen wir individuelle Förder- und Differenzierungsmöglichkeiten an allen Schularten," stellt Fleischmann klar und erläutert im Gespräch mit Radio Gong: „Wenn eine Schülerin in Mathematik – das ist ja so der Klassiker – einen Sechser hat und deswegen in der achten Klasse sitzen bleibt, dann muss man herausfinden, wo die grundlegende defizitäre Entwicklung ist: Was kann das Mädchen nicht, wo hat sie aufgehört, in Mathematik chronologisch dem Lernzyklus zu folgen? Wo ist die grundlegende Lücke bei diesem Mädchen? Genau da müssen wir dann die passende Fördermaßnahme für diese Lücke anschließen. Am besten individuell oder zumindest in Kleingruppen mit Kindern, denen es ähnlich geht. Wenn das Mädchen stattdessen wegen einem Sechser das ganze siebte oder das ganze achte Schuljahr wiederholen muss, ist wahnsinnig viel verloren. Das Mädchen verliert Zuversicht. Und eigentlich kapiert ohnehin niemand, warum ich wegen einem Fach auch alle anderen Fächer nochmal machen muss. Deswegen wäre eine gezielte Förderung für ihr konkretes Problem besser und eben nicht das pauschale Sitzenbleiben.“
Gute Differenzierung stärkt alle…
Differenzierte Lernangebote zu schaffen, die im Sinne heutiger erziehungswissenschaftlicher Erkenntnisse auf unterschiedliche Leistungsstände abgestimmt sind, hätte dabei nicht nur Vorteile für Schüler:innen, die sich schwer tun, stellt die BLLV-Präsidentin klar: „Modernes Lernen zeichnet sich dadurch aus, dass wir individuell hinschauen: ‘Hey, was kannst du richtig gut? Wie können wir deine Stärken stärken?‘ Denn wir dürfen auch die nicht vergessen, die permanent unterfordert sind. Es gibt Talente, die wir nicht so gut fördern können, wie sie es bräuchten um sich top zu entwickeln – dann eben in einer Kleingruppe für Leistungsstarke. Wir Lehrerinnen und Lehrer haben gelernt, mit unterschiedlichen Schülerinnen und Schülern umzugehen, ob Top-Talente oder Kinder, die sich hart tun im Rezipieren von Texten oder die in Mathematik schon am Zehnerübergang gescheitert sind. Dann braucht es die individuelle Förderung: Dann muss ich Zeit haben, in einer Kleingruppe die Schüler zusammenzufassen, die eben diesen Zehnerübergang in der Grundschule noch nicht draufhaben. Dann muss ich Zeit haben, in einer extra Arbeitsgemeinschaft Leseunterstützung zu geben. Dann muss ich eine Fördergruppe installieren für die Kinder, die Dyskalkulie haben, dann muss ich eine Kleingruppe bilden mit Fachpersonal, mit Förderlehrern, die ihnen genau da helfen, wo der nächste Sprung zum Verstehen noch nicht gemacht werden kann. Das ist moderne Bildung, das ist moderne Pädagogik. Uns tun diese 4 % Wiederholer verdammt leid, weil das eigentlich nicht sein müsste. Und weil wir wissen, dass die Maßnahme des Wiederholens pädagogisch wenig Sinn macht.“
… kostet aber!
Mit Blick auf den eklatanten Lehrkräftemangel in Bayern betont Fleischmann, dass die Lehrkräfte dafür dringend mehr Zeit und Ressourcen für alle Schülerinnen und Schüler bräuchten. Denn aus ihrer Sicht ist es Aufgabe des Schulsystems, jedem Kind gerecht zu werden: "Wir haben an Grundschulen, Mittelschulen und Förderschulen seit Jahren Lehrermangel. Lehrermangel heißt: Wir sind schon zu wenige, um überhaupt den Pflichtunterricht abzudecken. Kinder individuell zu fördern, können wir also überhaupt nicht anbieten. Uns fehlen hinten und vorn eben die nötigen Differenzierungsmöglichkeiten, die kleinen Gruppen, die Fördergruppen, die explizit auf einzelne Schwächen ausgerichteten individuellen Fördermöglichkeiten. Und genau da ist der Wurm drin. Und das seit Jahren!“
„Das hat mir auch nicht geschadet“ ist kein Argument
Die Folgen sind dramatisch und betreffen die gesamte Gesellschaft, warnt Simone Fleischmann: „Es ist nämlich nicht so, wie viele meinen: ‘Mein Gott, der Fünfer hat mir auch nicht geschadet, da musst du halt mal eine Ehrenrunde drehen.‘ Wir können es uns gar nicht leisten, dass Kinder demotiviert sind! Schule soll motivieren zum lebenslangen Lernen. Deswegen muss wirklich alles dafür getan werden, dass es Menschen gibt, die diese Förderung wieder anbieten können. Mehr Förderlehrer, mehr Schulpsychologen, mehr Profis, die Kinder individuell in der Schule begleiten können. Wir können uns da nicht auf außerschulische Förderung verlassen, denn manche Eltern können sich keine Nachhilfe leisten. Das ist ein Armutszeugnis für das Schulsystem. Es gibt viel zu tun, und das muss mehr sein als dieses stupide Wiederholen. Die Zahlen sind ein Zeichen, dass das nicht gelingt. Nicht, weil Lehrkräfte es nicht können, sondern weil wir zu wenige sind.“
Die Wissenschaft ist weiter als die Erinnerung mancher Politiker:innen
Die aktuelle Leistungsdiskussion in der Bundespolitik, an der sich auch Bayerns Ministerpräsident gerne beteiligt, sieht Simone Fleischmann zudem nicht auf der Höhe der Zeit: „Wir im BLLV wollen auch Leistung. Wir wollen, dass Kinder Höchstleistungen bringen, dass wir Stakeholder haben, dass wir Kinder haben, die ihre Talente gefördert kriegen. Aber wir wollen eben auch die krasse Bildungsungerechtigkeit bekämpfen, indem wir die anderen Kinder auch mitnehmen. Das ist unser Leistungsbegriff. Ich bin dagegen, dass wir an einem alten, sehr traditionellen Leistungssystem festhalten. Was aber natürlich viele Menschen in der Bevölkerung wollen – schlicht, weil sie nur das selbst kennen. Wir wissen aber aus der Wissenschaft und auch durch unsere eigene Erfahrung, dass Kinder einen ganzheitlichen Leistungsbegriff brauchen, dass wir andere Lernmethoden brauchen und dazu gehören auch andere Feedbackmethoden.“
Denn regelmäßiges, wertschätzendes Feedback zum Leistungsstand der Kinder und Jugendlichen ist aus Sicht der BLLV-Präsidentin essenziel für Lernerfolge: „Wenn ich Kinder beschreibe und in passenden Worten überlegt Feedback gebe, ist das lernförderlich, motivierend und professionell“, betont Simone Fleischmann.
Welches Schulsystem schafft das mit welchen Menschen?
Wer es mit der Leistungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen ernst meint, darf also nicht an überholten Methoden jenseits pädagogischer Erkenntnisse festhalten – genauso wenig, wie auf Bierzelt-Niveau Lehrerinnen und Lehrern die Schuld zuschieben. Denn das ist komplett kontraproduktiv, stellt die BLLV-Präsidentin klar: „Manche sagen ganz einfach: ‘Müssen die Lehrer halt mehr arbeiten und diese Förderung anbieten.‘ Mit diesem ‘Argument‘ möchte ich aufräumen und sage: Das geht halt nur, indem wir eine Kleingruppe haben, indem wir eine individuelle Fördergruppe haben, indem wir nach Stärken und Schwächen der Kinder die Möglichkeit haben, mit sieben, acht Kindern explizit an ihren Schwächen zu arbeiten, zum Beispiel im Förderunterricht. Das ist mir ganz wichtig, denn die Gesellschaft ist schnell dabei und sagt: ‘Mein Gott, wir sehen ja, die Lehrer arbeiten eh so wenig und haben dauernd Ferien.‘ Wir brauchen aber kein Lehrer-Bashing, sondern wir müssen klären: Was braucht die Schule als System, um diesen Kindern gerecht zu werden? Ich bin überzeugt davon, dass alle wollen, dass Kinder individuell abgeholt werden und jeder entsprechend seiner Kapazitäten Erfolge einfährt. Denn wir sind in der Gesellschaft zu wenig junge Menschen. Wir können und dürfen keinen einzigen verlieren. Dann müssen wir uns aber auch in der Art und Weise, wie wir Bildung anbieten, verändern. Das kostet Personal. Die Lehrer dafür fallen nicht von den Bäumen. Also müssen wir dafür sorgen, dass es attraktive Arbeitsbedingungen gibt: Wenn Lehrkräfte sagen könnten: ‘Wir schaffen das. Wir können jedem Kind gerecht werden.‘ Dann wären mehr junge Leute Lehrerinnen oder Lehrer. Dann haben wir das Problem bei der Wurzel gepackt. Dann haben wir nämlich genug professionellen Nachwuchs!“