Denn was auf den ersten Blick harmlos wirkt, zeigt bei genauerem Hinsehen, wie sehr stereotype Geschlechterrollen noch immer im Schulalltag präsent sind. Die Botschaft, die bei den Schüler:innen ankommt, ist klar: Stärke ist männlich. Verantwortung liegt bei Jungs. Mädchen sind implizit nicht stark genug. Solche Zuschreibungen passieren tagtäglich, oft unterbewusst und ohne böse Absichten. Aber sie haben Wirkung.
Die Schule ist ein Ort der Bildung. Aber eben nicht nur in Bezug auf Mathematik, Geschichte oder Rechtschreibung. Sie ist auch ein zentraler Ort der Persönlichkeitsbildung. In ihr erleben Kinder und Jugendliche, was als „normal“ gilt und was von ihnen erwartet wird. Von Mädchen wird oft erwartet, dass sie still, hilfsbereit und angepasst sind, während Jungen als laut, technisch interessiert und führungsstark wahrgenommen werden. Wer von diesen Bildern abweicht, spürt schnell Gegenwind – durch Blicke, Kommentare oder sogar Ausgrenzung. Schüler:innen, die nicht in diese Schubladen passen, kämpfen häufig mit Selbstzweifeln, innerer Verunsicherung oder dem Gefühl, nicht dazuzugehören.
Räume öffnen, in denen Kinder sich ausprobieren dürfen
Gerade weil das so ist, kommt der Schule eine enorme Verantwortung zu. Sie darf nicht der Ort sein, an dem alte Geschlechterrollen unkritisch weitergetragen werden. Doch in vielen Schulbüchern fehlt es bis heute an Vielfalt: Berufsbilder sind oft stereotypisch gezeichnet, Frauen erscheinen seltener in naturwissenschaftlichen Kontexten, nicht-binäre oder queere Identitäten kommen meist gar nicht vor. Auch das Verhalten vieler Lehrkräfte, oft auch unbewusst, spiegelt gesellschaftliche Rollenerwartungen wider. Wer bekommt im Unterricht mehr Redezeit? Wer wird als besonders begabt wahrgenommen? Wer wird für Disziplin und Ruhe verantwortlich gemacht? Die Antworten folgen oft einem veralteten Verständnis von Geschlechterrollen. Dabei ist klar: Diese Rollenmuster sind kein naturgegebenes Gesetz, sondern gesellschaftlich geprägt – und genau deshalb auch veränderbar.
Eine Schule, die Kinder wirklich individuell fördern möchte, muss sich von dem Konzept verabschieden, dass das Geschlecht die Persönlichkeit definiert. Stattdessen sollte sie Räume öffnen, in denen jedes Kind sich ausprobieren darf – ohne dass die Erwartungen der Gesellschaft über jedem Verhalten liegen. Wenn ein Mädchen sich für Technik begeistert oder ein Junge einfühlsam mit anderen umgeht, sollte das nicht als „besonders“ auffallen – sondern ganz selbstverständlich sein. Es braucht ein Lernumfeld, das Vielfalt nicht nur abbildet, sondern aktiv stärkt.
Vielfalt als Stärke statt alter Rollenmuster
Das bedeutet auch: Lehrkräfte sollten sich selbst immer wieder kritisch hinterfragen. Welche Bilder und Vorstellungen habe ich eigentlich im Kopf, wenn ich an „typische“ Mädchen oder Jungen denke? Welche unausgesprochenen Erwartungen trage ich vielleicht in meinen Unterricht hinein – und gebe sie unbewusst an meine Schüler:innen weiter? Oft geschieht das ganz nebenbei, im hektischen Schulalltag. Umso wichtiger ist es, sich diese Mechanismen bewusst zu machen.
Ein entscheidender Schritt dabei kann der Austausch mit Kolleg:innen sein. Denn manchmal erkennt man bestimmte Denkmuster oder Gewohnheiten erst, wenn man sie mit anderen bespricht – wenn man hört, wie andere Situationen lösen oder welche Fragen sie sich selbst stellen. In solchen Gesprächen entsteht Raum für neue Perspektiven, für ehrliches Nachdenken und gemeinsames Lernen. Wer offen für diesen Dialog ist, kann sein eigenes pädagogisches Handeln reflektieren und gezielt andere Impulse setzen. So kann Schule zu einem Ort werden, an dem Vielfalt als Stärke gesehen wird – und nicht durch alte Rollenmuster begrenzt wird. Das ist kein einfacher Prozess. Aber ein notwendiger.
Starke Kinder brauchen Erwachsene mit offenen Herzen
Denn jedes Kind, das sich aufgrund seines Geschlechts in eine Rolle gedrängt fühlt, ist eines zu viel. Jedes Mädchen, das glaubt, in Mathe nicht gut zu sein, weil es eben ein „Jungensache“ sei. Jeder Junge, der nicht über seine Gefühle spricht, weil das angeblich nicht männlich ist. Und jedes Kind, das sich in den vorhandenen Geschlechterschubladen nicht wiederfindet und deshalb als „anders“ gilt – sie alle verdienen einen sicheren Raum, in dem sie einfach sie selbst sein dürfen.
Schule kann genau dieser Raum sein. Wenn wir es ernst meinen mit Chancengleichheit. Wenn wir bereit sind, unsere Sprache, unsere Materialien, unsere Rollenbilder zu hinterfragen. Und wenn wir endlich aufhören, die Zukunft unserer Kinder mit Farben wie Blau und Rosa zu begrenzen.
Denn am Ende brauchen wir keine „starken Jungs“, um Stühle zu tragen. Wir brauchen starke Kinder – in all ihrer Unterschiedlichkeit. Und wir brauchen Erwachsene, die diesen Weg mitgehen – nicht mit alten Sätzen, sondern mit offenen Herzen.
<< Luisa Niederstraßer, 2. Beisitz im Vorstand der Studierenden im BLLV
Dieser Beitrag entstand aus einem Austausch zum Thema im Rahmen des Workshops „Intergenerationelles Arbeiten im BLLV“.

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„Ich brauche starke Jungs, um...“
So begann der Satz einer Lehrkraft, die im Klassenzimmer um Hilfe beim Tragen von Stühlen bat. Ein beiläufiger Satz mit potenziell großer Wirkung. Luisa Niederstraßer, Beisitzende im Vorstand der Studierenden im BLLV, über den Weg zu „starken Kindern“.