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Zunehmende Gewalt auch an Schulen Startseite Topmeldung
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Kinder spiegeln die Verrohung in Gesellschaft und Politik

Die neue Kriminalstatistik zeigt eine deutliche Zunahme von Gewalttaten, besonders auch unter Jugendlichen. BLLV-Präsidentin Fleischmann warnt dabei vor schnellen Schuldzuweisungen und stellt klar: Jugendliche spiegeln nur das wider, was ihnen vorgelebt wird.

Aktuelle Zahlen des Bundeskriminalamts zeigen eine Zunahme insbesondere von Gewaltdelikten, dabei ist der Anstieg bei Tatverdächtigen unter 14 Jahren mit 43 Prozent gegenüber dem Vor-Corona-Jahr 2019 überdurchschnittlich. Auch der Anteil von Tatverdächtigen, die in der Statistik als „nichtdeutsch“ bezeichnet werden, hat überproportional zugenommen – hier ist in der Interpretation allerdings Vorsicht geboten, wie auch ein Faktencheck des Redaktionsnetzwerk Deutschland zeigt.

BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann stellt deswegen im Interview mit dem Münchner Merkur klar: „Wir können platte Erklärungen bei der Thematik nicht gebrauchen. Wir dürfen zwar auf diesem Auge nicht blind sein, aber wir können nicht einfach sagen, das sind die Migrantenkinder, die Gewalt ausüben. Damit machen wir alles kaputt, was positive Migrationspolitik bedeutet. Das wird Kindern nicht gerecht und führt nicht zu einer Gesellschaft des offenen Miteinanders. Wir sagen: Alle Gewalttaten brauchen eine Nulltoleranzpolitik, das heißt auch ein Nulltoleranzmanagement an den Schulen. Wir müssen dort konsequent jeden Fall anzeigen, egal, wer eine Straftat ausübt!“

Wenn die Gesellschaft Grenzen überschreitet, tun Kinder das auch

Fleischmann warnt ausdrücklich davor, Kinder und Jugendliche allein für die Zunahme von psychischer und physischer Gewalt verantwortlich zu machen. Der Schulalltag zeige schon immer, dass Kinder sich stark an Vorbildern orientieren – und eben reproduzieren, was ihnen vorgelebt wird: „Wenn man sieht, wie die Gewalt überall zunimmt, ist es kein Wunder, dass die Kinder, die ja Spiegel der Gesellschaft sind, zu Mitteln greifen, die weit über die Grenzen gehen. Es findet eine Verrohung in der Sprache statt — sowohl in der Gesellschaft als auch in der Politik. Das führt zu einer Verrohung der Sprache und der Taten der Kinder.“

Wenn in der Gesellschaft Ängste vor dem, was anders oder fremd ist, geschürt werden, dann geht das eben auch an Schulkindern nicht spurlos vorbei, berichtet die BLLV-Präsidentin: „Man hat den Eindruck, dass es Ängste auslöst, wenn jemand eine andere Religion oder sexuelle Orientierung hat. Das findet auch in den Familien statt und die Kinder können nicht damit umgehen und plappern es einfach nach.“

Gewaltfreie Konfliktlösung muss trainiert werden

Daraus leitet sich für Simone Fleischmann ein klarer pädagogischer Auftrag ab: „Erziehung und Bildung in der Schule heißt, wir müssen uns Zeit nehmen und die Konflikte auflösen. Es gilt herauszufinden: Was macht dem Schüler Angst? Vielleicht muss mehr Anti-Gewalt-Erziehung stattfinden, das ist dann vielleicht wichtiger als der Satz des Pythagoras.“

Das fällt allerdings in eine Zeit, in der der bayerische Ministerpräsident angesichts der PISA-Ergebnisse persönlich mehr Mathematikstunden verordnet hat. Man darf also gespannt sein, ob aus den aktuellen BKA-Zahlen wieder isolierte politische Schnellschüsse folgen. Der BLLV würde sich hier statt kurzfristigen Agierens auf immer neue externe Auslöser einen Dialog darüber wünschen, was Schule wirklich leisten sollte, um Kinder und Jugendliche zu befähigen, ihr Leben in einer sich dynamisch entwickelnden Welt, selbstwirksam, verantwortlich und zukunftsorientiert zu gestalten – und natürlich auch gewaltfrei.

Oft sind Lehrkräfte selbst Opfer der Gewalt an Schulen

Diesen pädagogischen Auftrag können Lehrkräfte aber nur umsetzen, wenn sie selbst vor Übergriffen geschützt werden – denn die sind leider an der Tagesordnung, wie Simone Fleischmann berichtet: „Ein Viertel der Lehrkräfte hat schon körperliche Gewalt erfahren, ein Drittel Cybermobbing erlebt. Ein Beispiel: Ein Vater, dessen Tochter Legasthenie hat, stürmt ins Klassenzimmer und brüllt eine Lehrerin an: ‘Nur wegen den ausländischen Kindern, die dauernd Deutschunterricht bekommen, wird mein Kind nicht gefördert!‘ Solche Angriffe vor Publikum sind an der Tagesordnung.“

Der BLLV-Dachverband VBE (Verband Bildung und Erziehung) erhebt gemeinsam mit forsa seit 2016 regelmäßig Zahlen zur Gewalt gegen Lehrkräfte, die zeigen, dass dies keineswegs Einzelfälle sind: Über die Hälfte der Schulleitungen in Bayern geben an, dass es in den letzten fünf Jahren zu Fällen direkter psychischer Gewalt kam, in einem Viertel kam es zu gewalttätigen körperlichen Angriffen auf Lehrkräfte oder Schulleitungen.

Mehr Miteinander und weniger Gegeneinander

Weil Gewalt kein isoliertes Thema der Schulen ist, gilt es, bei Prävention und Intervention vor allem auch mit Eltern zusammenzuarbeiten, denn deren Verhalten ist eben mit entscheidend, stellt Simone Fleischmann klar: „Da muss man dringend die Eltern mit ins Boot holen, denn die sind oft die schlechten Vorbilder. Kinder brauchen vor allem Vorbilder und wenn die negativ sind, ist das kein Wunder.“ Die BLLV-Präsidentin erlebt dabei auch, dass sich Eltern bezüglich der Bildung ihrer Kinder oft selbst massiv unter Druck setzen. „Teils geht es um einen Verteilungskampf, wer bekommt welche Förderung.“ Ihr Fazit: „Wir brauchen mehr Miteinander und weniger Gegeneinander!“

Mit großer Sorge blickt Simone Fleischmann daher auf Interpretationen der BKA-Statistik, die nicht in Richtung dieses nötigen Miteinanders, sondern auf eine weitere Verrohung des Umgangs und eine Spaltung der Gesellschaft zielen: „Es gibt keine einfachen Erklärungen. Wir müssen die Zahlen sehr genau interpretieren. Mir als Lehrerin bringt das nichts zu wissen, welche Nationalität jemand hat. Wir müssen aufpassen, was wir mit solchen Statistiken machen, und keine vorschnellen Urteile fällen -  das ist nämlich auch eine Form von Gewalt …“
 

Medienbericht

news4teachers befragt außerdem den Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention der Hochschule Zürich, Prof. Dirk Baier. Er stellt klar:

"Staatsangehörigkeit oder Geburtsland sind kriminologisch keine Ursachen von Kriminalität. Ausländerinnen und Ausländer haben einen niedrigen sozialen Status und niedrige Bildung. Deutsche mit ähnlichen Merkmalen sind ähnlich kriminell.“

Ausländer sind nicht nur als Tatverdächtige überrepräsentiert, sondern auch als Opfer, das werde aber öffentlich nicht mitdiskutiert:

"Damit entsteht ein Zerrbild von Kriminalität: Der Ausländer ist der Täter, der das deutsche Opfer ausnimmt oder verprügelt. In letzter Konsequenz führt das zu Wahlerfolgen von Parteien, die eine einfache Antwort vorgaukeln: Die Ausländer müssten weg und dann sei unser Kriminalitätsproblem gelöst. Was natürlich Unfug ist."