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Übertritt: Zu früh, zu stressig und nicht valide

Sollen wirklich drei Noten bei zehnjährigen Kindern die Weichen für die Bildungsbiografie stellen, ohne Einschätzung der Lehrkräfte und Eltern? BLLV-Präsidentin Fleischmann bemängelt, dass der Gesellschaft dadurch viele Talente und Fähigkeiten verloren gehen.

Die letzten Proben für den Übertritt auf die weiterführende Schule stehen an und das heißt für viele Kinder und Familien: Ausnahmesituation!

Denn nur in Bayern entscheiden ausschließlich die drei Noten aus den Fächern Deutsch, Mathematik und Heimat- und Sachunterricht darüber, welche Schule zehnjährige Kinder anschließend besuchen dürfen – egal wie Eltern und Lehrkräfte das Kind insgesamt einschätzen. Dafür sind 18 Proben zu schreiben und mündliche Abfragen durchzustehen.

Pädagogisch mehr als fragwürdig

Kinder haben Angst, dass möglicherweise eine einzige Probe darüber entscheidet, ob sie von Freundinnen und Freunden getrennt werden, wenn der Notenschnitt danach nicht für die gewünschte Schulart reicht. Eltern wollen ihren Kindern den besten Bildungsweg ermöglichen – oder können das Kind mangels Zeit oder Sprachkenntnis gar nicht unterstützen. Dann wird’s ganz schwer und von Bildungsgerechtigkeit, bei der Bayern ohnehin Schlusslicht ist, kann keine Rede sein.

Pädagogisch macht das alles keinen Sinn, stellt BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann im Gespräch mit dem Bayerischen Rundfunk klar: „10-jährige Kinder verteilt man doch nicht mit drei Noten auf drei Schularten! Das ist zu früh und auch nicht valide: Das sagt die Wissenschaft und man sieht es klar an den Quoten, wie viele Kinder vom Gymnasium auf die Realschule abgeschult werden, von der Realschule zur Mittelschule oder wie viele Kinder Klassen wiederholen müssen oder später freiwillig die Schulart wechseln.“

So hilft das keinem

BR24 begleitet dazu den zehnjährigen Philipp aus Michelau, bei dem die Chance, auf die gewünschte Realschule gehen zu können, nun von der letzten Matheprobe abhängt. Eine Zwei muss dafür her. „Es ist schon Druck, wenn man weiß, man will auf diese Schule gehen und braucht genau die Note und von der hängt es dann ab.“ Wer ihm zuhört, merkt sofort: Leistungsfördernd ist dieser Prozess ganz sicher nicht.

Statt also Kindern die bestmögliche Bildung gemäß ihrer Talente zu ermöglichen, verbaut der Übertritt in Bayern vielen ihre Chancen. Das Urteil von BLLV-Präsidentin Fleischmann ist daher eindeutig: "Der Übertrittszeitpunkt ist zu früh und zu stressig. Die drei Hauptfach-Noten haben keine Aussagekraft. Stress, Angst, Druck verhindert für manche Kinder einen anderen Bildungsweg."

Die Gesellschaft braucht alle Talente

So gerne Verfechter althergebrachter Formen von Leistungsrückmeldung und Aussortierpraktiken darauf verweisen, dass Kinder ja wohl bitteschön auch lernen sollen, in Prüfungssituationen zu bestehen, weil das doch später im Leben immer wieder kommt und sie dafür gerüstet sein müssen – für professionelle Pädagoginnen und Pädagogen ist klar, dass es dafür zunächst mal altersgemäße Förderung braucht, damit junge Menschen die dazu nötigen Fähigkeiten und Resilienz überhaupt erst entwickeln können.

BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann plädiert daher für mehr Empathie. Gerade, weil die Gesellschaft in diesen herausfordernden Zeiten darauf angewiesen ist, dass möglichst viele Kinder ihre Leistungsfähigkeit optimal entwickeln: „Uns tun die Kinder leid, die nicht zeigen können, was sie könnten, weil sie mit der Drucksituation nicht umgehen können. Viele Lehrerinnen und Lehrer leiden schon ab der dritten und in der vierten Klasse genauso unter dem Übertrittsdruck, das kostet sie enorm Kraft. Ich blicke selbst als Lehrerin, Schulleiterin, Schulpsychologin und jetzt als BLLV-Präsidentin auf schlimme Fälle zurück, bei denen man sich wirklich fragen muss: ‘Was machen wir denn da mit diesen Kindern?‘ Das sollte eigentlich der ganzen Gesellschaft leidtun, denn das können wir uns schlicht nicht leisten!“

Bildung institutionsübergreifend denken

Dass sich in Bayern als letztem Bundesland nichts an dieser pädagogisch und wissenschaftlich ausgesprochen fragwürdigen Praxis ändert, hat indes mit starken Beharrkräften zu tun – auch seitens derer, die Lobbyarbeit für einzelne Schularten machen, wie BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann erläutert:

„Niemand, der eine bestimmte Schulart vertritt, wird dafür plädieren, das zu ändern, das ist doch logisch. Wir als BLLV vertreten aber alle Schularten. Wir schauen auf die Bildungsbiografie eines Kindes insgesamt – vom Kindergarten an bis zur beruflichen Bildung oder bis zur Hochschulbildung und auf die erwiesenermaßen sensiblen Phasen der Übergänge. Deswegen sagen wir: Der bayerische Sonderweg macht keinen Sinn. Drei Noten auf drei Schularten bei Zehnjährigen ohne Berücksichtigung des Elternwillens. Ich weiß zwar nicht, ob ich noch erlebe, dass sich das ändert, aber ich gebe alles. Wir wollen, dass sich da was ändert! Weil es zu früh ist. Weil es nicht valide ist und weil wir zu viele Kinder verlieren!“

» zum Bericht des Bayerischen Rundfunks: „Bayerns Schüler unter Druck: Übertritt um jeden Preis?“