In unterschiedlichen Medien und Netzwerken, die sich mit Schule und Bildung befassen, wird derzeit eine Arbeitszeiterfassung für Lehrkräfte und andere an der Schule tätigen Professionen wie Schulleitungen oder Seminarleitungen gefordert. Manche feiern eine zukünftige Arbeitszeiterfassung schon jetzt als Allheilmittel für alle Probleme des deutschen Schulwesens und fordern die sofortige Einführung ohne Wenn und Aber. Sie werde die Belastung der Lehrkräfte senken, deren Gesundheit fördern und geleistete Mehrarbeit endlich finanziell ausgleichen. Sogar das überkommene komplette Schulsystem würde durch die Einführung einer Arbeitszeiterfassung quasi über den Haufen geschmissen werden, meint der ein oder andere Experte.
Zunächst zum Hintergrund: In Sachen Arbeitszeiterfassung gibt es zwei wegweisende Urteile. Dasjenige vom Europäischen Gerichtshof aus dem Jahr 2019 verlangt, dass die EU-Staaten Arbeitgeber verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Das Urteil des Bundesarbeitsgerichtes aus dem Jahr 2022 wiederum verlangt die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofes in deutsches Recht umzusetzen. Das Bundesarbeitsministerium ist also gefordert, eine rechtliche Grundlage zu schaffen. Dies führte in der vergangenen Legislaturperiode zum Referentenentwurf einer gesetzlichen Regelung, der aber bisher nicht weiterverfolgt wurde. Im Gegenteil: Von Seiten der Kultusministerkonferenz kam die Forderung, Lehrkräfte von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung auszunehmen.
Die Risiken des Hamburger Modells
Die damalige KMK-Präsidentin Katharina Günther-Wünsch (CDU) begründete diese Forderung in einem Brief an den damaligen Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) damit, dass vor allem die außerunterrichtlichen Aufgaben wie Vorund Nachbereitung, Konferenzen oder auch die Elternarbeit nicht vorhersehbar und nachprüfbar seien. Diese Forderung lehnte das Arbeitsministerium ab. Inzwischen haben sich einzelne Bundesländer auf den Weg gemacht: In Sachsen läuft die Arbeitszeituntersuchung von Lehrkräften und Schulleitungen als Grundlage für eine spätere Einführung einer Arbeitszeiterfassung; das Bundesland Bremen will die Vorbereitung einer Arbeitszeiterfassung für Lehrkräfte mit einer Pilotphase zum Schuljahr 2026 / 27 starten.
Allerdings hat das Bundesland Bremen schon jetzt eine Präsenzzeit von 35 Stunden für Lehrkräfte installiert. Eine in Vollzeit beschäftigte Lehrkraft muss also 35 Stunden pro Woche an der Schule verbringen. Die Frage der Erfassung bezieht sich also nur mehr auf die restlichen Stunden der außerunterrichtlichen Tätigkeiten. Wesentlich weiter ist man in Hamburg. Dort wurde nach einer Studie zur Arbeitsbelastung der Lehrkräfte das „Hamburger Modell“ eingeführt. Unterschiedlichen Tätigkeiten, Jahrgangsstufen und Fächern wird ein vorgegebener Zeitansatz zugeschrieben. Auf Basis dieser Zeitansätze haben die Lehrkräfte dann eine vorgegebene Jahresarbeitszeit zu erbringen. Allerdings wurde in allen folgenden Studien zur Belastung von Lehrkräften in Deutschland die höchste Belastung im Stadtstaat Hamburg festgestellt.
Arbeitsschutz auf Kosten der Flexibilität
Kritiker einer Arbeitszeiterfassung verweisen auf folgende Tatsachen: Die sinnvolle Umsetzung einer Arbeitszeiterfassung sei nur zusammen mit der Einführung neuer Arbeitszeitmodelle umsetzbar; vor allem das Beispiel Hamburg zeige eindrücklich die versteckten Risiken auf. Durch die Erfassung der Arbeitszeit werde ein gerechtes Arbeitszeitsystem für die Lehrkräfte noch unmöglicher. Außerunterrichtliche Tätigkeiten könnten nur durch die Zuweisung bestimmter Zeitansätze bewertet werden, was dann wieder zu Ungerechtigkeiten führen würde. Lehrkräfte arbeiten nun mal unterschiedlich schnell oder haben unterschiedliche Ansprüche an Genauigkeit, Exaktheit oder Perfektionismus.
Weitere Kritikpunkte: Eine Arbeitszeiterfassung würde zwar die Möglichkeit stärken, den Arbeitsschutz für Lehrkräfte zu verbessern; andererseits würde die bisherige Flexibilität bei der Einteilung und Gestaltung der Arbeit unmöglich werden. So wären mehrtägige Fahrten nicht mehr möglich, da die Aufsichtspflicht der begleitenden Lehrkräfte nicht mit dem Arbeitsschutz zu vereinbaren wären. Es müsste tatsächlich ein Drei-Schicht-System installiert werden, um den Vorgaben des Arbeitsschutzes gerecht werden zu können.
Auch Elternabende wären nicht mehr einfach durchführbar, da die notwendigen Ruhepausen bis zum Arbeitsbeginn am nächsten Tag nicht einzuhalten wären. Ebenso wäre die gerne praktizierte Vorbereitung und Nachbereitung am Wochenende und am späten Abend aus arbeitsschutzrechtlicher Sicht nicht mehr möglich. Und aus eben dieser Sicht wäre auch ein „Hereinarbeiten“ der Ferien ausgeschlossen: Ein Überschreiten der 40 Stunden pro Woche ist nach den Vorgaben des Arbeitsschutzes nur für einen bestimmten Zeitraum, nämlich für sechs Monate, möglich.
40-Stunden-Woche ohne Ferien
Kurz: Die Kritiker sehen durch eine exakte Erfassung der Arbeitszeit vor allem die Gefahr, dass die Flexibilität in der Gestaltung der Arbeitszeit, dass die Souveränität über die eigene Arbeitszeit verloren geht. Gerade sie macht aber zu einem nicht geringen Teil die Attraktivität des Berufs aus. Die extremste Form wäre eine 40-Stunden-Woche für Lehrkräfte mit 30 Tagen Urlaub, damit verbunden der Wegfall der Ferien und ein Einstempeln am Morgen und das Ausstempeln am Abend. Dabei sind auch die Verantwortlichkeiten noch nicht geklärt. Ist denn dann die Schulleitung dafür verantwortlich und entsprechend haftbar, dass die Lehrkräfte die Vorgaben des Arbeitsschutzes tatsächlich einhalten? Fazit: Es ist eine sehr widersprüchliche Gemengelage mit der Hoffnung auf Entlastung auf der einen und der Befürchtung der deutlichen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und Attraktivität des Berufes auf der anderen Seite.