Pädagogik statt Polemik Startseite
Individuelle Förderung Multiprofessionalität Bildungsgerechtigkeit Heterogenität Schulschließung Schulsozialarbeiter

Individuell Fördern mit Ganzheitlichkeit und Geduld

In der Diskussion um Lernrückstände, die der IQB Bildungstrend konstatiert, stellt BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann klar, dass individuelle Förderung die pädagogische Antwort ist. Statt Schuldzuweisungen fordert sie Weichenstellungen für nötiges Personal.

Beim Lesen, Schreiben und Rechnen attestiert eine von der Kultusministerkonferenz beauftragte Studie deutschen Grundschülerinnen und Grundschülern deutliche Lernrückstände. Gemäß des vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) durchgeführten „Bildungstrend“ haben sich außerdem Ungleichheiten in Abhängigkeit von sozialem und zuwanderungsbezogenem Hintergrund weiter verstärkt. Nun ist eine Debatte entbrannt, welchen Anteil der Einfluss der Pandemie auf die Schulen daran hat und wie darauf zu reagieren ist.

In einer ausführlichen Diskussion in der Sendung „Campus & Karriere“ im Deutschlandfunk stellt BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann zunächst klar, dass diese Ergebnisse lediglich widerspiegeln, was Pädagoginnen und Pädagogen täglich in den Schulen erleben:

“Uns Lehrerinnen und Lehrer hat das nicht überrascht. Wir beobachten es, wir sind ja täglich mit den Schülerinnen und Schülern zusammen, und wir merken natürlich, dass Corona noch das Übrige getan hat. Aber die Entwicklung, dass diese soziale Schere so stark auseinander geht, haben wir ja auch schon in der Zeitstrecke 2011 bis 2016 in den Studien und Trends beobachtet. Das macht uns große Sorgen. Wir würden diesen Kindern sehr gerne sehr individuell helfen.“

Förderung braucht Personal

Für individuelle Förderung braucht es aber vor allem das, woran es insbesondere an Grundschulen seit Jahren mangelt – mehr Lehrkräfte. Für die an den Schulen tätigen Lehrerinnen und Lehrer ein höchst frustrierendes Erlebnis, wie die BLLV-Präsidentin schildert:

“Man sieht den Bedarf, und man kann ihn oft nicht erfüllen, weil der Lehrer fehlt, weil die Kleingruppe fehlt, weil einfach die Individualität fehlt, um eben genau diesen Kindern unter die Arme zu greifen. Die entscheidende Frage ist doch, wie wir das Festgestellte jetzt ausgleichen können. Die professionelle Antwort darauf ist individuelle Förderung. Wenn wir derart besorgniserregende Zahlen haben und nach den Sommerferien nochmal deutlich mehr Aufgaben im Bereich der Integration warten, dann ist aber klar, dass ein einzelner Lehrer dem Förderungsanspruch nicht genügen kann. Es braucht dringend mehr Personal und Entlastung für die Lehrerinnen und Lehrer.“

Voller Einsatz für offene Schulen: Volle Hygiene-Ausstattung muss Standard sein

Die Kultusministerkonferenz betont stattdessen den Einfluss von Schulschließungen auf die aktuellen Ergebnisse der IQB-Studie, obwohl der Trend schon lange vorher bestand. Simone Fleischmann ruft daher auf, den Blick nach vorne zu richten:

“Wir können jetzt nur lernen für die Zukunft. Es gilt, dieser wachsenden Bildungsungerechtigkeit endlich Herr zu werden. Das geht nur, indem wir den Lehrkräftemangel beseitigen, indem wir Multiprofessionalität ansetzen und indem wir dafür sorgen, dass wir den Kindern gerecht werden können. Deswegen ist natürlich ein großes Ziel – wenn wir die aktuellen Infektionszahlen sehen, dann ist das ja besorgniserregend – dass nicht erneut Schulschließungen passieren. Daran sollten jetzt alle arbeiten.“

Statt „Das kannst du nicht“…

Insgesamt braucht es aus Sicht des BLLV einen konstruktiven Lösungsansatz, der die Schülerinnen und Schüler als Menschen in den Mittelpunkt stellt, die in den letzten beiden Jahren teils enorm persönlich gefordert waren – besonders da, wo die soziale Situation schon vor Corona ungünstige Lernbedingungen bedeutet hat, die sich in der Pandemie noch verschärft haben. Die Defizitorientierung in der öffentlichen Diskussion ist dabei absolut kontraproduktiv, stellt Simone Fleischmann klar:

“Es ist eine Kernfrage: Wie schnell lässt sich etwas aufholen? Mich regt das Wort ‘aufholen‘ schon auf, weil das natürlich immer signalisiert: ‘Du bist hinterher, kommt, streng dich an, renn schneller, das Ziel ist weit entfernt. Wir sind erst auf Seite 40, die anderen sind schon auf Seite 80.‘ Es gibt leider gerade durchaus auch Schuldzuweisungen und Aufrufe, dass man halt in der Grundschule endlich mal richtig Druck machen müsste und jetzt endlich mal aufholen müsste. Aber mit mehr Druck werden wir da nicht weiterkommen. Stattdessen müssen wir sehr genau die Stärken und Schwächen der einzelnen Kinder beobachten und genau erkennen: Wo braucht welches Kind welche Hand? Wir müssen moderne Didaktik und Methodik anwenden. Das könnten jetzt in den Schulen in Sachen Integration zum Beispiel Kolleginnen und Kollegen, die die Ausbildung Deutsch als Zweitsprache haben. Und für die individuelle Förderung eben Förderlehrerinnen und –Lehrer: Die sind geschult, genau zu wissen: Was braucht diese kleine Gruppe, die wir da gebildet haben, Besonderes? Die Kollegin macht mit der großen Gruppe inzwischen in der Klasse weiter. Aber die kleine Gruppe mit acht oder neun Schülerinnen und Schülern, die kriegt jetzt einen individualisierten, didaktisch-methodisch versierten Förderunterricht.“

...besser „So kannst du dazulernen“

Die Methoden um Schülerinnen und Schüler dazu zu befähigen, sich die nötigen Kenntnisse anzueignen, sind also bekannt. Die Diagnose, wie sie die IQB-Studie vornimmt und wie sie auch an den Schulen täglich noch gelingt, ist dabei aber nur der erste Schritt, wie BLLV-Präsidentin Fleischmann schildert:

“Wir haben kein Problem damit, als Lehrerinnen und Lehrer den Schülern zu sagen: ‘Guck mal, da möchte ich dir noch helfen. Da hast du noch einen Bereich, an dem wir noch miteinander arbeiten müssen.‘ Aber das möchten wir eigentlich nur dann sagen, wenn wir ihnen dann zu dieser Schwäche, diesem Defizit – wie immer man das dann nennen möchte – auch ein Angebot machen können, wenn wir sie fördern können, wenn wir sie unterstützen können! Das ist meine Kritik an der Defizitorientierung. Wir Lehrkräfte analysieren, wir diagnostizieren und müssen dann aber oftmals schuldig bleiben, dass wir die Kinder auch entsprechend abholen, wo sie stehen. Es geht nicht darum, die Schwächen nicht zu sehen. Auch die Kinder wollen ja eine Rückmeldung – es gibt sehr wohl Kinder, die wollen wissen: „Wo kann ich mich noch weiterentwickeln?“ Da ist professionelle Unterstützung gefragt. Wir dürfen Kinder dann nicht einfach mit der Diagnose alleine stehen lassen. Es muss möglich werden, mit dem nötigen Personal in die Förderung zu gehen!“

Konstruktiver Lernbegriff statt Rückschritt ins 19. Jahrhundert

Die weiteren Schritte, um das Diagnostizierte in eine pädagogische Maßnahme zu überführen, die Kinder auch tatsächlich weiterbringt, sind aber personalintensiv. Deshalb werden nun von verschiedenen Seiten lieber Scheindiskussionen aufgemacht, die sich jenseits jeglicher schulischer Realität im ideologischen Rückschritt üben. Simone Fleischmann plädiert dafür, stattdessen den Blick zu weiten und sich um die professionelle Umsetzung eines modernen, wissenschaftlich anerkannten Bildungsverständnisses zu bemühen:

“Wir brauchen jetzt keine Diskussion über die Pädagogik in der Grundschule, die manche jetzt gerne wieder aufmachen wollen. Wir sind uns doch wohl einig, dass es in der Schule eine ganzheitliche Bildung braucht. Wir diskutieren heute aus gegebenem Anlass besonders über Deutsch und Mathematik. Aber Grundschule ist eben auch noch deutlich mehr. Wir brauchen auch den Sportunterricht, den Musikunterricht, den Kunstunterricht und die Theater-AG. Die Kinder müssen auch mal auf der Bühne stehen und eigene Stärken erleben dürfen. Kinder brauchen die anderen Fächer, um dann in Fächern wie Mathe und Deutsch auch Lust zu entwickeln, sich kompetent zu zeigen, mutig und selbstbewusst zu sein. Eine alte Diskussion über Methodik und Didaktik in der Grundschule brauchen wir nicht, denn ganzheitliche Bildung ist längst wissenschaftlicher Konsens. Es ist der Kern dieser Schulart, Kinder ganzheitlich zu sehen. Das soll auch in Zukunft so sein.“

Wer es ernst meint, muss ernst machen

Ganzheitliche Bildung mit Herz, Kopf und Hand, heißt also, Lerninhalte nicht gegeneinander auszuspielen, sondern das Lernen als übergreifenden, persönlichen Prozess zu verstehen. Wer also ehrlich an Lernerfolgen interessiert ist, muss Rahmenbedingungen für diese Prozesse setzen. Das ist im Interesse aller Lehrerinnen und Lehrer, stellt Simone Fleischmann klar:

“Niemand leugnet, dass wir basale Kompetenzen in der Leseflüssigkeit, im Leseverständnis, in der Orthografie brauchen – eben genau in den Bereichen, die in den Trends und Studien erscheinen. Das brauchen wir ganz klar. Wenn das gelingen würde, dann hätten wir ja diese Ergebnisse nicht. Die Kolleginnen und Kollegen an den Grundschulen sind aber seit Jahren am Limit, deren Fass ist voll, und das wissen eigentlich auch alle, die jetzt die Ergebnisse monieren. Die Politik muss einfach alles dafür geben, dass mehr junge Leute – die Besten! – Lehrerinnen und Lehrer werden wollen.“

Ehrlichkeit, Geduld und konsequentes Handeln

Natürlich lässt sich der Personalmangel dabei nicht so kurzfristig beheben, wie es angesichts der aktuellen Bestandsaufnahme wünschenswert wäre.  Zur Wahrheit gehört aber ebenso, dass dieser Missstand eben schon lange vor dem diesjährigen IQB-Bildungstrend bekannt war und die Forderungen nach nachhaltigen Maßnahmen zur Fachkräftegewinnung im Bildungsbereich ebenso jahrelang ungehört verhallten. Solange dieser Kreislauf nicht durchbrochen wird, gilt es aus Sicht der BLLV, zumindest ehrlich zu bekennen, wie sich die Lage an Schulen in Zeiten von Lehrermangel, Coronamaßnahmen und Integrationsaufgaben gestaltet. Präsidentin Simone Fleischmann fordert:

“Wir müssen die Erwartungshaltung ein Stück weit der Realität anpassen. Es wäre schön, wenn wir zwei Lehrer pro Klasse hätten, es wäre prima, wenn wir die Förderlehrer nicht als Klassenleiter verwenden würden, sondern zur Förderung. Es wäre wunderbar, wenn die Profis vom Himmel fielen, um die Kinder, die an den Regelschulen zu inkludieren sind, aufzufangen. Es wäre wunderbar, wenn wir Differenzierungsgruppen hätten. Aber hätte, wäre Fahrradkette ist halt nicht die Realität. Was bleibt uns denn übrig? Die Lehrer fallen eben nicht vom Himmel. Also muss man ans Erwartungsmanagement ran. Das ist ein heißes Eisen, das ist mir klar. Aber was wollen wir denn sonst machen? Sollen wir mehr Druck machen? Sollen wir den Kindern noch mehr ihre Defizite vor Augen halten und ihnen noch mehr sagen: „Das kannst du nicht, du bist hinterher“? Nein! Ich glaube, wir brauchen Geduld. Wir brauchen pädagogische Professionalität. Und wir brauchen Politiker, die jetzt endlich anpacken und sagen: „Ja, wir machen diesen Beruf attraktiv. Wir statten die Schulen bestmöglich aus, auch in dieser schwierigen Lage“. Die Bildungsqualität muss uns hier in Deutschland der größte Wert sein.

» Die komplette Diskussion zum Nachhören im Deutschlandfunk
 

Position des BLLV-Dachverbands

Pressemitteilung des Verbands Bildung und Erziehung (VBE):
„Zum IQB Bildungstrend – Geringere Leistungen in Deutsch und Mathematik: Das politische Versagen ist deutlich älter als Corona“

Medienbericht bei news4teachers:
Alarmierende IQB-Studie: Lehrerverbände greifen die Kultusminister an – „Bildungspolitik verfehlt ihre Ziele haushoch!“

Replik:
Kritik an Grundschulen: Beckmann hält Philologen "Denkmuster aus letztem Jahrhundert" vor

  • Der VBE-Vorsitzende Udo Beckmann kommentiert die Einlassungen des Philologenverbands und des Realschullehrerverbands VDR:
    "Sie machen erschreckend deutlich, dass man nach wie vor in Denkmustern von Schule aus dem letzten Jahrhundert verharrt und nicht mitbekommen hat, dass es der gemeinsame Auftrag aller Schulen ist, Kinder in ihrer gesamten Persönlichkeit zu fördern.“
     
  • Die Einordnung des IQB Bildungstrends durch die Kultusministerkonferenz sieht Beckmann als Augenwischerei an:
    „Die politisch Verantwortlichen verweigern den Grundschulen, trotz besseren Wissens, seit Jahren die Ressourcen, die sie für die Erfüllung ihres Bildungsauftrags benötigen. Wer individuelle Förderung ins Schulgesetz schreibt, muss auch die notwendigen Voraussetzungen für die Umsetzung schaffen. Die Politik ist unehrlich, wenn sie jetzt für das rückläufige Leistungsniveau vor allem die Schulschließungen ins Feld führt und damit versucht, das eigene politische Versagen zu kaschieren.“