"Wir sitzen alle im selben Boot, rudern aber leider in verschiedene Richtungen."
So schildert BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann bei Radio Oberland wie es Kindern, Eltern und Lehrkräften mit dem Übertritt von der Grundschule an die weiterführenden Schulen geht, der im Mai wieder ansteht. Grund ist der bayerische Sonderweg: "Wir sind das einzige Bundesland, in dem Kinder mit drei Noten ohne Einbeziehung des Elternwillens drei Schularten zugewiesen werden", erläutert Fleischmann. "Das findet keiner gut und die meisten Kinder leiden darunter."
Dadurch wird unter den Kindern eine Dreiklassengesellschaft geschaffen, die Simone Fleischmann so beschreibt: "Es gibt Kinder, die mit nichts ein Problem haben und überall gute Leistungen bringen. Die haben dann einen Schnitt von 1,3 oder 1,5. Um die geht es bei der Übertrittsproblematik nicht. Und es geht leider auch nicht um die Kinder, um die sich niemand kümmert, die Vierer und Fünfer haben, bei denen eh immer klar war: Dieses Kind kann in keine andere weiterführende Schule übertreten, sondern es bleibt auf der Mittelschule. Da gehen viele Talente verloren. Vor allem geht es beim Übertritt um die Kinder, die mal eine drei haben, mal eine zwei und mal eine vier, bei denen die Eltern aber beschlossen haben: Weil alle Nachbarskinder, weil alle Verwandten, weil sie selber zum Gymnasium gehen, muss auch ihr Kind zum Gymnasium gehen."
Familien im Ausnahmezustand
Das hat immense Auswirkungen auf die ganze Familie, schildert die BLLV-Präsidentin: "Wenn das Kind dann nachts nicht mehr schlafen kann, weil die beste Freundin zum Gymnasium geht, es selber aber wohl nicht dahin darf, wenn es krank wird vor einer Deutschschulaufgabe, weil es weiß, es bringt den Aufsatz nicht mit einer Zwei hin, wenn der Papa am Sonntagabend zu Hause brüllt, weil das Kind die HSU-Sachen wieder nicht so gelernt hat, dass er zufrieden ist: Dann stecken Familien in der vierten Klasse in eben diesem Schlamassel, der echt hart für alle ist."
Allzu oft wird dann aus dem für Bildungserfolg so wichtigen Miteinander zwischen Kindern, Lehrkräften und Eltern ein regelrechter Kampf: "Ich habe selber erlebt, dass die Sabine mit ihren Eltern bei mir als Schulleiterin saß wegen einer Drei in einer Matheschulaufgabe und der Vater den Anwalt im Schlepptau hatte", berichtet die BLLV-Präsidentin und stellt die Folgen klar: "Wenn ein Kind einmal erlebt, dass die Eltern wegen einer drei in Mathe mit einem Anwalt zur Schulleiterin gehen, dann ist klar, dass dieses Kind in der nächsten Leistungserhebung auf keinen Fall Bestleistungen bringen kann – weil es Angst hat, dass das nochmal passiert. Diese Kinder leiden immens."
Die Gesellschaft formt ihre Kinder
Dabei sind die Eltern meist selbst Getriebene, weiß Simone Fleischmann: "Die meisten Eltern wollen das Beste für ihre Kinder: dass sie ein gutes Leben führen können, dass sie glücklich werden und einen Platz in der Gesellschaft finden. Der Mythos zum Thema Geld und Zufriedenheit lautet dabei: Das funktioniert alles viel besser und viel schneller, wenn das Kind nach der vierten Klasse aufs Gymnasium geht. Das ist aber eine immense Drucksituation. Dabei wissen wir doch längst, dass das Abitur nicht der einzige Weg zum Glück ist. Aber es wird halt so getan und die Eltern stehen damit bei Verwandten und Bekannten enorm unter Druck. Das Gefühl, das Kind sei nur was wert, wenn es zum Gymnasium geht, ist jedoch ein Trugschluss."
Letztlich kristallisiert sich an den Eltern aber nur das aus, was gesamtgesellschaftlich im Fokus steht, meint die BLLV-Präsidentin: "In der Gesellschaft wird es eben von vielen so gesehen und es lässt sich auch in der Leistungsgesellschaft, in der wir in Bayern leben, und bei diesem sehr selektiven Schulsystem nur ganz schwer drehen. Manche Eltern schaffen das. Aber die meisten leiden unter diesem Druck und geben ihn dann auch weiter. Das ist verdammt schade!"
Nicht objektiv, vergleichbar oder langfristig valide
Deswegen plädiert der BLLV für eine breite Diskussion über das Leistungsverständnis im Schulsystem und seine Struktur: "Diese Kinder, Eltern und Lehrer tun mir wirklich leid und deswegen muss da dringend eine systemische Änderung her", fordert Präsidentin Simone Fleischmann.
Dabei verweist sie auch auf mangelnde Vergleichbarkeit von Noten, die auch langfristig ohnehin kaum Aussagekraft haben: "Ein Zweier in Mathematik in München am Hasenbergl und ein Zweier in Mathematik in Grünwald sind definitiv zwei unterschiedliche gute Leistungsergebnisse. Diese Kinder könnten aber zum Beispiel beide auf ein Mädchengymnasium in der Innenstadt in München gehen. Die beiden haben dann aber ziemlich unterschiedliche Kompetenzvoraussetzungen. Keine Note ist also objektiv. Die hohen Quoten bei Rückkehrern, Abschulung und Wiederholungen zeigen außerdem deutlich: Diese Noten sind nicht valide im Sinne einer Aussage für die nächsten 10 oder 15 Jahre eines Kindes."
Worum geht es im Kern?
Die BLLV-Präsidentin plädiert beim Blick auf mögliche systemische Veränderungen für eine offene Diskussion, die sich vor allem an Bildungszielen orientiert: "Was ist denn eigentlich das Schulsystem? Das muss man doch von den gesellschaftlichen Zielen her denken: dass wir kein Kind verlieren, dass wir nicht demotivierte Schülerinnen und Schüler produzieren, dass wir die Besten fördern, die Schwächsten mitnehmen, dass kein Talent verloren geht. Wir sind für Leistung. Wir wollen, dass jedes Kind Leistung zeigen kann und für seine Leistung differenziertes Feedback kriegt. Dafür müssen wir uns gut überlegen: Was wollen die Eltern, was will die Gesellschaft, wie denkt die Wirtschaft?"
Ein Kernpunkt aus Sicht des BLLV ist dabei längeres gemeinsames Lernen – ein verbindendes Merkmal von Ländern, die in Untersuchungen wie PISA regelmäßig Spitzenergebnisse erzielen, und seit vielen Jahren auch wissenschaftlicher Konsens.
Fördern statt aussortieren
"Deswegen fordern wir im Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband eine Veränderung des Übertrittsverfahrens, eine längere gemeinsame Schulzeit und Möglichkeiten, Kindern neben Noten noch weiteres relevantes Feedback zu geben, weil ein Vierer alleine eben relativ wenig über die Kompetenz eines Kindes aussagt", stellt BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann daher klar und betont:
"Wir Lehrer finden den Übertritt in dieser Form ungut: Denn keiner von uns will Kinder absortieren, umsortieren und demotivieren. Wir wollen für die Kinder kämpfen, deren Talente sonst verloren gehen. Deswegen rentiert es sich, über die Übertrittszeugnisse und den Übertritt insgesamt nachzudenken."

Sortieranstalt oder Lernort?
Startseite Topmeldung
Übertritt: Wir verlieren zu viele Talente
Nur in Bayern werden zehnjährige Kinder strikt nach drei Noten sortiert. Bei vielen Kindern und Eltern liegen deswegen die Nerven blank, Lehrkräfte bekommen es mit Anwälten zu tun. Lern- und Bildungserfolg geht aber anders, betont BLLV-Präsidentin Fleischmann.