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Was aus PISA wirklich zu lernen ist Startseite Topmeldung
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„Kinder bräuchten so viel und wir sind so wenige"

Die PISA-Ergebnisse dürfen keine Schuldzuweisungen an Lehrkräfte und Migrationskinder auslösen, sondern endlich konsequentes politisches Handeln, stellt BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann klar. Damit jedes Kind die nötige Förderung bekommen kann.

Es ist inzwischen leider eine Routineübung, die nach dem immer gleichen Muster abläuft: Eine Studie zur Bildung ergibt mangelhafte Ergebnisse und ein öffentlicher Aufschrei hallt durchs Land. Menschen, die vorgeben, einfache Lösungen zu haben, versteigen sich in Schuldzuweisungen, die wenig bis gar nichts mit der täglichen Realität an Schulen zu tun haben. Im ausführlichen Gespräch mit bayerischen Radiovertretern schildert BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann ihre Sicht auf Bildungsanalysen und benennt, was es wirklich für die Lösung der Probleme braucht.

Den gerne formulierten „PISA-Schock“, weil die neuen Ergebnisse in Teilbereichen noch schlechter ausfallen als zuletzt, gibt es für Pädagogen aufgrund der neuen Studie nicht, stellt Fleischmann klar:

„Wir Lehrerinnen und Lehrer sind gar nicht schockiert, denn wir haben die Kinder jeden Tag vor uns und sehen, dass sie unter der Corona-Zeit gelitten haben, dass sie insgesamt zu wenig individuelle Förderung von uns bekommen können, weil wir Lehrermangel haben. Deswegen haben uns die Ergebnisse leider nur in dem Wissen bestätigt, dass die Kinder Kompetenzeinbußen aufzeigen werden.“

Die professionelle Lösung ist klar, aber teuer

Die BLLV-Präsidentin erläutert, dass die Gegenmaßnahmen entgegen der öffentlichen Debatte völlig klar sind und es Kolleginnen und Kollegen gibt, die exakt die Fachausbildung dafür haben, die Probleme zu lösen – doch dass die zweckentfremdet werden und zu wenige sind:

„Wir müssen vor allem hinschauen, was die Kompetenzen in Mathematik und im Lesen angeht. Es gibt zwar auch noch im naturwissenschaftlichen Bereich Ergebnisse, die uns ein bisschen stutzig machen müssen. Aber die liegen zum Teil auch über den internationalen Durchschnitten.
Mathematik und Lesen sind grundlegende Kompetenzen. Wer nicht lesen kann, wer nicht rechnen kann, hat auf dieser Welt keine Chance. Wenn Kinder und Jugendliche im Alter von 15 Jahren in Deutschland eklatant unter dem internationalen Durchschnitt abschneiden, dann heißt es, die Kinder brauchen darin Förderung. Dafür bräuchten es jetzt zusätzliche Arbeitsgemeinschaften, ergänzende Förderkurse, Förderlehrerinnen und -Lehrer. Doch die fördern gerade nicht, wie es ihre Profession wäre, in Kleingruppen, sondern die stehen als Vertretungen vor ganzen Klassen und stopfen den Lehrermangel.

Es müsste aufgrund der Analysen – und da gibt es ein paar mehr als nur PISA – jetzt also endlich mal gehandelt werden. Handeln geht aber nur mit mehr Personal, denn mehr Personal bedeutet mehr Förderung: 26 Kinder in einer Klasse und du sollst individuell das schwächste Kind fördern und das beste Kind auch noch mit seinen Talenten stärken? Das schaffst du nicht!“


Soziale Ungleichheit mit enormer gesellschaftlicher Sprengkraft

Als hoch problematisch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sieht Fleischmann, dass die dramatische personelle Unterversorgung in Bildungseinrichtungen sich immer stärker auf ohnehin benachteiligte Kinder und Jugendliche auswirkt:

„Es gibt Eltern, die tun alles für ihre Kinder. Die Kinder haben gute Förderung im Gitarre spielen, gehen ins Ballett und haben ein Pferd, sind sehr eloquent und dürfen auch immer in ein Sommercamp gehen, sind also außerschulisch optimal gefördert. Mama und Papa haben Zeit, dem Kind jeden Tag bei den Hausaufgaben zu helfen. Diese Kinder schreiben dann Zweier und Einser und kommen sehr gut durchs Schulsystem. Davon haben wir in Bayern viele, deswegen sind wir insgesamt in den Ergebnissen auch nicht bodenlos, trotz des Lehrermangels. Denn die wirtschaftliche Situation in Bayern ist so, dass viele Eltern Zeit haben für die Kinder und genügend Geld. Dies Kinder schneiden gut ab.

Die anderen Kinder aber, deren Eltern zwei Jobs haben, wo es keinen Papa in der Familie gibt, wo die Mama nachts noch am Putzen ist und eigentlich in der Früh noch gar nicht da ist, wenn der Sohnemann in die Schule gehen soll, wo weder Nachhilfe gezahlt werden kann, noch jemand Zeit für die Kinder hat: Diese Kinder aus sozioökonomisch schwachen Verhältnissen brauchen uns! Nicht nur einen Lehrer, sondern den Schulpsychologen, der überhaupt mal schaut: Was ist in der Familie los? Den Förderlehrer, der das Kind individuell fördert! Denjenigen, der im Fachunterricht ihm auch mal die Chance gibt, dass er in Sport gut ist, dass er in Englisch gut ist, dass er werken kann, dass er kochen kann, dass er merkt: Ich bin ein wertvoller Mensch – ich kann zwar Mathe nicht, da habe ich eine Sechs oder eine Fünf, aber ich kann etwas anderes.

Dafür brauchen wir ganzheitliche Bildung an den Schulen, gerade für diese Kinder, die jetzt in Mathematik, Deutsch und den Naturwissenschaften nicht so gut sind. Denn wenn sie da nicht so gut sind, brauchen sie andere Stärken. Deswegen dürfen wir keinesfalls jetzt nur Kernkompetenzen fördern, sondern müssen den ganzen Menschen fördern. Momentan zerreißt es uns Lehrerinnen und Lehrer zwischen den Kindern, die exzellent sind, die Talente haben, die hochbegabt sind, und den Kindern, die niemanden haben, der ihnen hilft.“


Ausgrenzung und Spaltung lösen gar nichts

Aus Sicht des BLLV ist es dann fatal, wenn die verschiedenen Förderbedarfe, die Kinder aus ganz unterschiedlichen Hintergründen mitbringen, auf Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund verengt werden. Präsidentin Simone Fleischmann verwahrt sich entschieden gegen solche ausgrenzenden Schuldzuweisungen, die die komplexe Situation an Schulen wahrheitsverfälschend vereinfachen:

„Viele fragen dann nach, ob die Migrationskinder dadurch alles kaputt machen. Ich möchte ganz klar sagen: Das ist gemein! Natürlich brauchen diese Kinder besondere Förderung. Wir haben aber ganz viele, die schon lange hier sind und auch in gewisser Weise bedürftig. Sie haben vielleicht eine Depression, sie haben eine aggressive Störung, sie haben ADHS, sind zappelig, haben Legasthenie, Dyskalkulie oder haben ein Elternhaus, das sie überfordert, wo die Kinder saumäßig unter Druck stehen. Wir haben so viele Kinder, die so viele individuelle Bedürfnisse haben, denen wir nicht gerecht werden können.

Wir haben natürlich auch die Migrationskinder, die noch nicht so gut die deutsche Sprache können, die aber vielleicht verdammt intelligent sind. Und die sollen jetzt immer an allem schuld sein? Natürlich, bei 24 Kindern und vier Kindern mit Migrationshintergrund, die nicht Deutsch sprechen, wird es ganz schön schwierig. Es wäre aber nicht schwierig, wenn wir diesen Kindern gut Deutsch beibringen könnten, wenn wir dazu die Förderlehrkräfte hätten. Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die sind für ‚Deutsch als Zweitsprache‘ ausgebildet, die diesen Kindern helfen könnten, wenn sie nicht dauernd Vertretungsstunden halten müssten. Das ist doch unsere Aufgabe! Wir sind doch eine Migrationsgesellschaft, wir müssen und wollen doch diese Kinder mitnehmen! Das heißt, daran sind nicht diese Kinder schuld, sondern es geht um die Rahmenbedingungen, die es uns nicht erlauben, diese Kinder – genauso wie das ADHS-Kind, genauso wie das verwahrloste Kind, auch das wohlstandsverwahrloste Kind oder das aggressive Kind – zu fördern.“


Den ganzen Menschen bilden und fördern

Unter diesen Umständen, droht eine ganze Generation abgehängt zu werden, denn mangelnde Bildung führt zu mangelnder Teilhabe. Das kann sich eine Gesellschaft, für die Bildung eine enorm wichtige Ressource ist, nicht leisten, meint Simone Fleischmann:

„Der Schlüssel ist also Personal, deswegen sprechen wir von einem nötigen ‘Pisa-Ruck‘: Die Ergebnisse sehen, wahrnehmen und nicht schönreden, uns als Expertinnen und Experten vor Ort glauben und uns mit zusätzlichem Personal ausstatten, damit wir den Kindern gerecht werden können. Weil uns zerreißt‘s sonst! Wir sehen ja selbst, dass diese Kinder nicht lesen, nicht rechnen können. Ein Viertel der Kinder in der vierten Klasse hat nicht mal mehr die Mindeststandards im Lesen. Das heißt, die können eigentlich nicht so lesen, wie man es von einem Viertklässler erwartet, und sollen dann in die weiterführenden Schulen gehen. Das sehen wir, das spüren wir. Das erleben wir täglich und können nicht helfen, weil wir nicht genügend Profis für die Förderung am Start haben und nicht die Kleingruppen, um diese Kinder individuell zu fördern. Das macht uns Lehrerinnen und Lehrer krank – die Kinder sowieso, weil die im Leben nicht vorankommen.

Die Eltern schimpfen uns dann, obwohl wir nichts dafürkönnen. Hier muss man die Bevölkerung mitnehmen und sagen, es sind nicht die Lehrer, die faul sind, die ihre Füße hochlegen und die nur Ferien haben – so nach diesem ewig alten Mythos – sondern: Wir sind insgesamt zu wenige, vertreten für ein oder zwei Klassen gleichzeitig die fehlenden Kolleginnen und Kollegen und Unterricht fällt aus. Menschen sind als Nothelfer an den Schulen, die gar keine Lehrerinnen und Lehrer sind. Alle müssen also erstmal anerkennen, dass es massiven Lehrermangel gibt. Und dass der dazu führt, dass wir Kinder nicht so exzellent fördern können, wie es infolge solcher Ergebnisse dringend nötig wäre. Deswegen muss die Politik hier reagieren.“


Wert der Bildung darf keine Worthülse sein

Dabei geht es aber um mehr als um öffentlichkeitswirksame Schnellschüsse. Es braucht nachhaltig wirksame Maßnahmen, die Geld kosten, aber auch um ein generelles Umdenken, wie die Gesellschaft Menschen wahrnimmt, die sich für die Bildung junger Menschen engagieren, findet BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann:

„Wenn wir uns über den Lehrermangel Gedanken machen, dann brauchen wir längerfristige Maßnahmen, nämlich ein attraktives Studium und attraktive Arbeitsbedingungen. Weil, wenn junge Leute sich entscheiden sollen ‘Hey, ich will Mittelschullehrerin werden oder ich will Realschullehrerin werden‘, dann muss dieser Beruf attraktiv sein. Es herrscht insgesamt Arbeitskräftemangel, das heißt, Schulen konkurrieren mit anderen Bereichen. Eine Lehrerin wie ich muss erzählen können, wie schön dieser Beruf ist, wie erfüllend er ist. Die aktuellen Arbeitsbedingungen machen den Beruf aber madig, weil wir das, was nötig ist, mit dem vorhandenen Personal nicht schaffen können. Weil wir immer wieder sehen, wie durch solche PISA Ergebnisse, dass wir die Kinder nicht dahin bringen, wo sie hin sollen. Und dann heißt es in der Öffentlichkeit schon manchmal, dass die Lehrer schuld seien. Nein, die Lehrerinnen und Lehrer wollen, dass diese Kinder gut gebildet sind. Wir wollen ihnen alles geben. Wir spüren aber, dass wir eben zu wenige sind und die Kinder darunter leiden.

Deswegen muss es die Lehrerbildung sein, die sich verändert, damit mehr junge Menschen sich für den Beruf entscheiden und gut darauf vorbereitet werden. Es braucht attraktive Arbeitsbedingungen für die, die jetzt am Start sind. Dafür ist auch die gleichwertige Bezahlung ganz wichtig, dass also die Grundschullehrerin genauso viel verdient wie die Kollegin am Gymnasium. Aber das ist nur ein erster Schritt …“